Acatis-Expertin Claudia Giani-Leber: „So viele Krisenherde wie Anfang der 80er Jahre“

Dr. Claudia Giani-Leber, Geschäftsführende Gesellschafterin (Marketing) bei Acatis

Wir haben Dr. Claudia Giani-Leber, Geschäftsführende Gesellschafterin bei Acatis, im Interview gefragt, ob uns eine Rezession bevorsteht, wie es um die Lieferkettenschwierigkeiten steht und worauf wir uns 2023 außerdem einstellen müssen. 

Von Isabell Angele

courage-online.de: Wie haben Sie das abgelaufene Börsenjahr erlebt? 

Claudia Giani-Leber: 2022 war ein schwieriges Jahr, das wirtschaftliche Umfeld hat sich stark eingetrübt, und es gab teils deutliche Korrekturen an den Kapitalmärkten. Endlich hatte die Corona-Pandemie ihren Schrecken etwas verloren, doch dann belastete uns alle der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Dieser schreckliche, noch immer andauernde Krieg führte zu stark steigenden Energiepreisen. Diese, aber auch die hohen Liquiditätsquoten, der Arbeitskräftemangel und das verknappte Güterangebot (Lieferketten-Engpässe!) fachten die bereits erhöhte Inflation weiter an. An den Börsen wurden besonders Technologieunternehmen aufgrund ihrer hohen Bewertungen massiv abgestraft, selbst wenn es den Unternehmen fundamental gut ging. Ungewöhnlich im Jahr 2022 war zudem, dass die Marktverwerfungen vom Rentenmarkt ausgingen und von dort in den Aktienmarkt getragen wurden. Beide Anlageklassen verzeichneten Verluste. 

Welche Themen dürften die Börsen 2023 beschäftigen?  

Zurzeit haben wir so viele Krisenherde wie zuletzt Anfang der 80er Jahre. Zwar hatten wir auch damals sterbende Wälder durch den sauren Regen, doch heute stellt sich der Klimawandel viel dramatischer dar, die Corona-Pandemie ist gerade in Bezug auf Long-Covid keineswegs bezwungen, wir leiden unter unterbrochenen Lieferketten, dem Krieg in der Ukraine und die beunruhigende Schwäche der Demokratie als politischer Regierungsform bereitet mir große Sorgen. Aber den größten Belastungsfaktor für die Aktienmärkte sehe ich in der Inflation und den damit zusammenhängenden Zinserwartungen. 

Apropos Inflation: Die Teuerungsrate lag zuletzt bei über zehn Prozent. Wo dürfte die weitere Reise hingehen? 

Wir erwarten, dass die Inflation etwas zurückgehen wird, allerdings nicht auf das Niveau der letzten Jahre. Entgegen dem allgemeinen Marktkonsens erwarten unsere Spezialisten bei Acatis eine dauerhaft erhöhte Preissteigerung von rund 4,0 Prozent. Gerade wenn gute Konjunkturnachrichten kommen, sollte dies die Inflation antreiben. Deshalb haben wir in mehreren Fonds Absicherungen gegen eine hohe Inflation über Zertifikate eingekauft. 

Sind die Zinsanhebungen der Notenbanken ausreichend, um das Inflationsproblem in den Griff zu bekommen? 

Wir müssen unterscheiden zwischen den USA und Europa. In den USA wurde in der Corona-Pandemie viel Geld an die Bevölkerung verteilt. Durch Zinserhöhungen der Fed wird nun ein Teil dieses Geldes dem Markt wieder entzogen, der Anreiz zum Sparen steigt. Und in den USA ist die Inflation auch schon etwas zurückgegangen. In Europa ist die Inflation eher angebotsgetrieben, das heißt es gibt zu wenig Öl, Gas oder Chips für die Autoproduktion. Dieses mangelnde Angebot kann die EZB durch höhere Zinsen nicht bekämpfen und die Bevölkerung hier muss sparen, um die erhöhten Energie- und Lebenshaltungskosten bezahlen zu können. Die Hilfsprogramme der Regierung reichen hier bei weitem nicht aus. 

Wie groß ist die Gefahr, dass die Notenbanken mit ihrem straffen Zinskurs eine Rezession auslösen oder verschärfen? 

Wir erwarten aufgrund der allgemeinen Lage und der höheren Zinsen für 2023 eine Rezession in den USA und auch in Europa. Zudem gehen wir davon aus, dass es noch einige Insolvenzen bei den „Zombie-Unternehmen“ geben wird, die aufgrund der höheren Zinsen ihre Schuldenlast nicht mehr tilgen können. 

Als einen weiteren Unsicherheitsfaktor haben sie die Lieferkettenschwierigkeiten angesprochen. Diese haben sich auch nach Corona noch nicht gänzlich aufgelöst. Wie geht es im kommenden Jahr weiter? 

Die Lieferkettenprobleme haben sich schon etwas entspannt und sollten sich weiter lösen. Das zeigen zum Beispiel die sinkenden Frachtraten für Schiffscontainer. Und da China nun seine Null-Covid-Politik doch lockert, dürfte sich die Lage – nicht nur für die chinesische Bevölkerung, sondern auch für die globale Wirtschaft – ebenfalls bessern. Laut einer Studie von Goldman Sachs könnten die Lieferketten nächstes Jahr sogar inflationsdrückend wirken.  

Wie sollten sich Anlegerinnen in diesem Umfeld positionieren? 

Das hängt selbstverständlich von der Einzelsituation ab. Risikoneigung und Renditeerwartung müssen achtsam geprüft werden. Der Schwerpunkt von Acatis liegt klar auf Aktien, und wir betrachten diese Anlageklasse gerade jetzt als sehr attraktiv, vor allem die Unternehmen mit starken Geschäftsmodellen und hoher Preissetzungsmacht. Allerdings schwanken die Aktienmärkte manchmal auch sehr stark – in diesem Jahr können wir ein Lied davon singen! Deshalb kann für jeden, vom Kind bis zum Erwachsenen, ein Sparplan ein guter Einstieg an der Börse sein: über einen längeren Zeitraum wird monatlich ein gleichmäßiger Betrag investiert. Das bietet die Chance, Schwankungen an der Börse zu glätten und über Krisenphasen hinweg einen durchschnittlichen guten Kurs zu erhalten. „Time schlägt Timing“, mit anderen Worten, sparen über lange Zeiträume befreit Sie von der schieren Unmöglichkeit, gerade zur optimalen Zeit ein- oder auszusteigen.

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