Am seidenen Faden

Foto JGould/iStock Familie Strand
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Es ist wieder soweit. Der Sommer schält sich vorsichtig aus der Regenjacke, und für viele bedeutet das den Besuch bei der Verwandtschaft. Bei mir setzt seit Anfang der Woche die mentale Vorbereitung auf den Urlaub bei meiner Familie in Düsseldorf ein. Denn auch, wenn ich sie wirklich gerne habe: Ein bisschen wappnen muss ich mich für die Begegnung schon.

Was wären Literatur, Kunst und Film ohne irgendeine durchgedrehte Familie im Zentrum der Handlung? Shakespeares‘ Romeo und Julia wäre nicht lesenswert und auch die Ben-Stiller-Filmographie stünde ohne Kassenschlager wie Meine Braut, ihr Vater und ich ziemlich verwaist da. Der Erfolgsfaktor des hinreißenden Familien-Roadmovie Little Miss Sunshine wäre ohne die Figur des selbstmordgefährdeten Onkels, den erfolglosen Schriftstellervater und die ein wenig zu kleine und einen Tick zu gut genährte Tochter, die einen Kinderschönheitswettbewerb gewinnen möchte, gleich Null.

Dabei denkt wohl jeder, es wäre nur seine Familie, die kompliziert ist. Ein Irrglaube, dem man im Kollektiv oft aufsitzt.

Vor einigen Wochen war ich zu Gast auf der Familienfeier eines alten Freundes. Die Art von Veranstaltung, vor welcher man bis zum letzten Moment nach einer glaubhaften Ausrede fiebert, um nicht erscheinen zu müssen. Bis man dann feststellt, dass es doch ganz nett ist.

Jedenfalls wendete sich das Gespräch am Kindertisch ‒ den man anscheinend auch mit Anfang 20 noch nicht zu verlassen die Aussicht hat ‒ der Familie zu. Die ausgetauschten Anekdoten brachten beispielsweise den Fall einer über dreißigjährigen Zerstrittenheit zwischen Mutter und Sohn hervor. Er hatte es damals gewagt, den Osten zu verlassen, um eine Frau aus dem Westen zu heiraten. Ich hingegen gab die Geschichte über meine Tante bei Scientology zum Besten. Die Auswirkungen davon weiß meine Familie seit Jahrzehnten gekonnt zu verschweigen. Die Freundin des Gastgebers musste nachlegen. Das tat sie mit einer dubiosen und bestimmt nicht ganz lückenfreien Erzählung über einen entfernten Onkel, der vor einigen Jahren seine Tochter entführt und sich mit ihr nach Costa Rica abgesetzt haben soll.

Auflösen lassen sich solch komplizierte Verwandtschaftsdynamiken leider nur in Filmen. Im echten Leben scheint nichts geeigneter, so lange zu dauern wie ungeklärte Situationen. Womöglich ist es das, was es zu genießen und festzuhalten gilt. Irgendwann wird man es nämlich vermissen.

Das Ding bei der Familie ist, dass sie in den allermeisten Fällen aus Menschen besteht, die man sonst wahrscheinlich gar nicht treffen würde. Trotzdem freue ich mich auf sie nächste Woche. Ich habe ja nur diese eine.

Es steht für mich fest, es darf sich gestritten werden. Ja sogar bis aufs Blut. Aber es wird sich niemals getrennt. Das ist eine Menge wert. Ich hoffe, für euch auch. Meine Oma würde dazu sagen: Unter jedem Dach ein Ach.

Also, besucht eure Familien so lange ihr sie habt.

Bis bald

Alexa Gräf
Redakteurin Courage


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