Berlin (dpa) – Um es gleich vorneweg zu sagen: Der französische Badeort Biarritz spielt in Andrea Sawatzkis gleichnamigem Roman kaum eine Rolle, zumindest nicht als Schauplatz. In ihrer Geschichte weht einem nicht die salzige Brise der Atlantikküste um die Nase, sondern der muffige Geruch eines bayerischen Pflegeheims.
Biarritz ist ein Traum, ein verführerisches Symbol für einen kurzen Moment der Freiheit und Lebensfreude, den die alte verwirrte Frau im Seniorenheim einmal in ihrer Jugend genießen durfte. Diese Frau ist die Mutter der Erzählerin Hanna und das schwierige, ambivalente Verhältnis von Mutter und Tochter das zentrale Thema des Romans.
In gewisser Weise ist «Biarritz» eine Fortsetzung oder Ergänzung zu «Brunnenstraße», Sawatzkis viel beachtetem vorherigen Roman. Darin erzählte die Schauspielerin fiktional, aber doch sehr nah an der Realität, von ihrer bis dahin wenig bekannten alptraumhaften Kindheit.
Bis zu ihrem achten Lebensjahr hatte sie allein mit ihrer Mutter gelebt. Ihr viel älterer Vater, ein Journalist, war mit einer anderen Frau verheiratet. Erst als diese starb, wurden sie eine Familie.
Trauma: schwer erkrankende Eltern
Doch der Traum vom Familienglück erfüllte sich nicht. Der Vater wurde vorzeitig dement, machte hohe Schulden und die Mutter musste als Krankenschwester in Nachtschichten diese Schulden abarbeiten, während die Tochter auf den schwer kontrollierbaren, kranken Vater aufpasste. Eine traumatische Überforderung für das Kind.
Man muss «Brunnenstraße» nicht gelesen haben, um «Biarritz» zu verstehen. In Rückblicken wird die Geschichte wieder aufgenommen, allerdings mit Mutter Emmi im Zentrum. Diese verlor früh ihre Eltern, musste die Schule abbrechen und entwickelte wegen ihres geringen Bildungsgrads einen Minderwertigkeitskomplex.
Nach einem Unfall behielt sie eine schiefe Nase zurück und empfand sich deshalb als unattraktiv für Männer. Wenn sich wirklich einmal einer für sie interessierte, setzte sie übertriebene Erwartungen in ihn. Das führte schließlich auch zum Bruch mit ihrer besten Freundin Marianne. Denn ihr gemeinsamer Bekannter Heinz entschied sich für diese.
Der französische Badeort Biarritz steht für Glück und Leichtigkeit
Nach Jahrzehnten treffen sich die beiden Frauen im Altenheim wieder. Doch die demente Emmi erkennt ihre frühere Freundin nicht mehr. Marianne aber erinnert sich an die unbeschwerte junge Emmi von einst und wie sie einmal eine gemeinsame Reise nach Biarritz unternahmen. Drei Wochen der Leichtigkeit und des Glücks, um die sie alle beneideten.
Sawatzki zeigt Emmi als Mutter, die zerrissen ist zwischen der Liebe zur Tochter und dem Verlangen nach gesellschaftlicher Anerkennung. Ihr Wunsch, Hanna unbedingt einen Vater und damit einen Status zu verschaffen, führt letztlich ins Unglück. Bei dem mit dem kranken Vater überforderten Kind entwickelt sich unstillbarer Hass: «Der Hass flutete mich. Wie ein Fluss riss er mich mit sich. Es war mir nicht möglich, mich ihm zu entziehen. Diesen Hass zu empfinden demütigte mich zutiefst.»
Nun, als erwachsene Frau spürt die Tochter zu ihrem Entsetzen wieder diesen Hass, diesmal auf die demente Mutter, «weil sie es wagte, mich genau in die gleiche Situation zu bringen, die ich mit meinem Vater durchgemacht hatte».
Der Roman ist hervorragend komplex gebaut
Auch die damaligen Gewaltfantasien kehren zurück, der Wunsch, die Mutter möge tot sein und gleichzeitig die Scham und das Erschrecken, «das Wissen darüber, dass du böse bist und schlecht».
Sawatzki gelingt es in ihrem düsteren Roman, die komplexe Beziehung zwischen Mutter und Tochter in all ihren Verästelungen, Schattierungen und der Ambiguität darzustellen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass sich die beiden Frauen lieben, auch wenn sie sich zwischenzeitlich piesacken, mit Vorwürfen traktieren, ja vielleicht manchmal sogar hassen.
Beim Lesen empfindet man Groll. Denn es wird nur allzu deutlich, dass Mutter und Tochter vor allem Opfer einer Gesellschaft sind, die sie in einer fast ausweglosen Situation, der Pflege des kranken Mannes und Vaters, allein ließ. Beiden wurde viel zu viel abverlangt.
Mit dieser trostlosen Erkenntnis entlässt die Autorin ihre Leser allerdings nicht. Nicht umsonst heißt der Roman «Biarritz». Und so steht der flirrende Badeort am Ende doch noch für einen letzten hoffnungsvollen Aufbruch.