Berlin (dpa/tmn) – Bademeister, Pflegekraft, Ladendetektiv, Polizistin, Bibliothekar, Sozialarbeiterin – so unterschiedlich die Berufe sein mögen, eint viele der Beschäftigten doch eine Erfahrung: Sie müssen sich mit Widerspruch auseinandersetzen, manchmal sogar mit Gewalt. Konflikte drohen überall dort, wo Menschen Regeln durchsetzen, Entscheidungen treffen oder schlicht ansprechbar sind.
«Erwachsene lassen sich nicht gerne von anderen Erwachsenen sagen, was sie zu tun haben», sagt Martin Eichhorn. Seit über 20 Jahren schult der Deeskalationstrainer aus Berlin Menschen, die in ihrem Berufsalltag mit Aggressionen und Grenzüberschreitungen konfrontiert werden.
Von Worten zu Schlägen
Die Bandbreite reicht von verbalen Ausfällen, Drohgebärden und Einschüchterung bis hin zu tatsächlichen Übergriffen. In manchen Berufen – vor allem dort, wo Menschen schlechte Nachrichten erhalten oder emotionale Ausnahmesituationen erleben – sind solche Situationen vielfach Alltag, sei es in der Notaufnahme, im Jugendamt oder als Gerichtsvollzieher beim Ortstermin.
So gaben in einer Studie der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) von 2018 knapp 80 Prozent der Befragten aus Pflege- und Betreuungsberufen an, in den vorausgegangenen zwölf Monaten Gewalt erlebt zu haben.
Wird es schlimmer? Inge Dembowski und Nicole Stab von der BGW beobachten zumindest mehr gemeldete Arbeitsunfälle durch Gewalt. Die beiden kümmern sich als Aufsichtspersonen der BGW um die Einhaltung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes in den Einrichtungen. «Bei den meldepflichtigen Arbeitsunfällen ist eine Zunahme zu beobachten.»
Ob das an mehr Vorfällen liegt oder daran, dass mehr Menschen den Mut fassen zu melden, was ihnen angetan wird – das lässt sich schwer sagen. Sicher ist nur: «Gewalt und Belästigung bei der Arbeit dürfen nicht verharmlost oder hingenommen werden.»
Wenn Verzweiflung umschlägt
Dass beispielsweise Notaufnahmen öfter als andere Bereiche in Kliniken von Gewalt betroffen seien, liege an den Rahmenbedingungen, so die BGW-Expertinnen. Patienten und Patientinnen befinden sich in emotionalen Ausnahmesituationen, haben Schmerzen und Ängste. Auch die sie begleitenden Angehörigen empfinden Ungewissheit und Hilflosigkeit.
«In der Notaufnahme treffen diese emotionalisierten Menschen nicht selten auf Gegebenheiten, die das Entstehen aggressiver und gewalttätiger Handlungen begünstigen können: lange Wartezeiten, Personalmangel und damit einhergehend fehlende Ansprechpersonen.»
Vorbereitung ist entscheidend
Aber was hilft den betroffenen Beschäftigten in dieser Situation? «Vorbereitung ist das A und O», sagt Martin Eichhorn. Dazu gehöre, mögliche Situationen und Reaktionen im Kopf durchzuspielen, auch mit einer gewissen Empathie, um nachvollziehen zu können, was im Gegenüber gerade vorgeht. Aber ebenso «Handwerkszeug für den Notfall», zum Beispiel ein Fluchtplan zum nächsten Ausgang. Für Berufsgruppen mit hohem Eskalationsrisiko empfiehlt Eichhorn regelmäßiges Verhaltenstraining.
Dabei geht es nicht um Kampfsporttechniken. Im Gegenteil: «Selbstverteidigung an einem Wochenende – das ist Augenwischerei», warnt er. Stattdessen empfiehlt er einfache, aber effektive Mittel – etwa durch simuliertes Erbrechen Ekel als Überraschungsmoment zu nutzen, lautstark zu reagieren oder Krankheit vorzutäuschen. Das Ziel: den Aggressor aus dem Konzept zu bringen und sich dann schnell zurückzuziehen.
Kontern, ohne zu eskalieren
Auch bei verbalen Angriffen helfe es, vorbereitet zu sein. Viele Menschen sind im ersten Moment sprachlos – und bleiben mit dem unangenehmen Gefühl zurück, der Attacke wehrlos ausgeliefert gewesen zu sein. Dabei kann schon ein kurzer Satz helfen. «Manchmal genügt ein einfaches ‘So, so’ oder ein ‘Ach was’ – das wirkt wie ein Stoppsignal», sagt Eichhorn. Entscheidend sei, dass man nicht zurück beleidigt, sondern Haltung zeigt – und dem Gegenüber klarmacht, dass man nicht erreichbar ist für dessen Angriff.
«Beleidigungen sind keine Kleinigkeit», betont Eichhorn. Was zunächst verbal beginnt, kann zur psychischen Belastung werden. «Wenn Sie täglich beleidigt werden, hinterlässt das Spuren – vor allem, wenn man vielleicht selbst gerade etwas dünnhäutig ist», warnt Eichhorn. Die psychischen Langzeitfolgen reichen bis hin zu posttraumatischen Belastungsstörungen. Dass viele der betroffenen Berufe traditionell als «helfend» gelten, macht die Enttäuschung über Aggressionen umso größer.
Durchhalten – oder lieber gehen?
Kann man einen Beruf mit ständigem Konfliktpotenzial ein ganzes Leben lang ausüben? «Manche Menschen können das – andere nicht», sagt Eichhorn. Wer sich vorbereitet fühlt, mit Belastungen umgehen kann und gute Strategien entwickelt, kommt meist über viele Jahre klar. Doch manche steigen aus.
Entscheidend sei oft die Erwartungshaltung: «Wer Polizist wird, weiß, dass er Konflikte und Gewalt erleben wird.» Als Ärztin oder Bibliothekar rechnet man damit nicht unbedingt. Ein wichtiger Schlüssel liege darin, sich die berufliche Rolle bewusst zu machen – und sich auch emotional von ihr zu distanzieren: «Ich werde nicht als Person beleidigt, sondern als Vertreter einer Maßnahme.» Auch das Ablegen der Dienstkleidung könne symbolisch helfen: «Ich ziehe die Jacke aus – und damit auch die negativen Erlebnisse.»
Ein Tabu bricht auf
Es tut sich was: Arbeitgeber hätten in den vergangenen zehn bis 15 Jahren viel dazugelernt, sagt Eichhorn. Auch weil sie gemerkt haben: Konflikte kosten – Gesundheit, Motivation, Geld. Mittlerweile gebe es in vielen Einrichtungen Sicherheitskonzepte, mehr Schulungen, Informationsmaterial und eine größere Offenheit für das Thema. «Früher haben sich viele Betroffene geradezu geschämt, über Gewalterfahrungen im Beruf zu sprechen», sagt Eichhorn: «Das ist zum Glück vorbei.»
Damit Beschäftigte wissen, wie sie sich bei Gewaltvorfällen verhalten, sollte es in jedem Betrieb ein betriebliches Präventionskonzept geben, heißt es von der BGW. Es müsse «spezifisch auf die jeweilige Situation zugeschnitten sein: Pauschale und isolierte Maßnahmen sind in der Regel wenig wirksam». Und klar müsse sein: «Beschäftigte zu schützen, ist Aufgabe des Arbeitgebers.»