Mario Draghi, der frühere Präsident der Europäischen Zentralbank, legte der EU-Kommission Mitte der Woche einen fast 400 Seiten dicken Bericht vor, in dem er Vorschläge präsentierte, wie die Union ihre wirtschaftliche Wettbewerbskraft zurückgewinnen könne.
Das ist ein ehrenwertes Anliegen, aber der Bericht war eine Enttäuschung; denn dort stand da kaum etwas, was man nicht schon von Politikern jedweder Couleur gehört hätte. Draghi forderte zusätzliche Investitionen in Höhe von 800 Milliarden Euro pro Jahr. „Gemessen an der Wirtschaftskraft wäre dies dreimal so viel, wie nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen des Marshall-Plans für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Europa benötigt wurde“, rechnete die „Neue Zürcher Zeitung“ amüsiert vor.
Draghis Problemanalyse ist durchaus richtig. Die EU hat ein deutlich geringeres Produktivitätswachstum als die USA; das real verfügbare Pro-Kopf-Einkommen ist in den vergangenen 25 Jahren nur halb so stark gestiegen wie in den USA. Und die digitale Revolution durch das Internet hat die Union weitgehend verschlafen. Doch die Maßnahmen, die Draghi vorschlägt, führen weitgehend in die Irre. Die von ihm geforderte Koordination der nationalen Industriepolitiken verschärft die Probleme eher; denn Politiker du Beamte wissen nicht besser als Private, welche Industrien in Zukunft florieren werden und welche Technologien gefördert werden sollten. Derzeit gleichen sich die Fehler nationaler Wirtschaftspolitiken noch halbwegs aus; wo Habeck auf instabile Erneuerbare setzt, bauen seine Kollegen die grundlastfähige Atomkraft aus und können Deutschland in der Dunkelflaute aushelfen. Bei einer zentralisierten EU-Industriepolitik wäre das nicht mehr der Fall.
Brisant ist auch der Vorschlag, bei der Finanzierung „bahnbrechender Innovationen“ auf eine gemeinsame Schuldenaufnahme der EU zu setzen. Wirklich überraschend kommt der Vorschlag für gemeinsame Schulden indes nicht. Bereits 2021 verschuldeten sich die EU-Staaten erstmals gemeinsam im Rahmen des sogenannten Corona-Wiederaufbaufonds. Die derzeitige Lage sei genaus ernst wie die Pandemie, begründet Draghi, um die Ausnahme von damals zu verstetigen. In Berlin wehrt sich einzig Finanzminister Christian Lindner gegen Draghis Phantasien.
Wird die Commerzbank übernommen?
Die Deutsche Börse wurde am Mittwoch von einer Mitteilung der zweitgrößten italienischen Bank, der in Deutschland mit der Tochter HVB bereits sehr präsenten Unicredit, überrascht. Sie meldete, dass sie einen Anteil von 9 Prozent an der Commerzbank, Deutschlands zweitgrößter Geschäftsbank aufgebaut habe. Die Italiener nutzten die Gunst der Stunde, als der Bund nun begann, seinen Anteil an der Commerzbank zu. Der deutsche Staat war der Commerzbank in der Finanzkrise zu Hilfe geeilt und hatte sie teilverstaatlicht. Von dem Anteil von bisher 16,49 Prozent bot der Bund in einem sogenannten beschleunigten Bookbuilding-Verfahren knapp 4,5 Prozent an – und die Unicredit griff beherzt zu und überbot alle anderen Bewerber deutlich. Der Zuteilungspreis habe 13.20 Euro pro Aktie betragen, hieß es. Die Italiener erwarben zugleich weitere 4,5 Prozent der Commerzbank-Aktien über den normalen Börsenhandel und sind nun nach dem Bund zweitgrößter Aktionär.
Sowohl der Bund als auch die Commerzbank scheinen von der Aktion düpiert worden zu sein. Eine Sprecherin des Finanzministeriums sagte am Mittwoch, es habe kein konkretes Angebot der Unicredit gegeben, das Verkaufsverfahren sei für alle Investoren offen gewesen. Der Bund werde jetzt erst einmal die neue Situation analysieren. Die Unicredit will jetzt bei den Aufsichtsbehörden beantragen, einen Anteil von über 9,9 Prozent aufbauen zu dürfen.
Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) forderte die Bundesregierung auf, den Verkauf weiterer Anteile an der Commerzbank zu unterlassen. Die Gewerkschafter fürchten einen massiven Stellenabbau. Am Vorabend war bekanntgeworden, dass Manfred Knof, der Vorstandsvorsitzende der Commerzbank, seinen Vertrag über das Jahresende 2025 nicht verlängern will. Knof hat die Bank erfolgreich saniert; die Commerzbank erzielte mit 2,2 Milliarden Euro 2023 das beste Ergebnis seit mehr als fünfzehn Jahren.
Dax schwungvoll ins Wochenende
Die Frankfurter Börse nahm die Nachrichten freundlich auf und setzte seine jüngste Erholung am Freitag schwungvoll fort. Letztlich ging der Leitindex Dax mit knapp ein Prozent höher bei 18.699 Punkten ins Wochenende. Auf Wochensicht fuhr er damit ein Plus von gut zwei Prozent ein. Für den MDax der mittelgroßen Börsenunternehmen ging es um 1,3 Prozent auf 25.550,66 Zähler nach oben. Rezessionssorgen zu Beginn des Monats konnten die Anleger längst abschütteln. Vor allem die Technologiewerte legten seit Mitte der Woche kräftig zu. Nach der erwarteten Zinssenkung der EZB am Vortag richten sich die Blicke nun auf die US-Notenbank Fed.
„Nächste Woche wird die Fed der EZB mit einer Leitzinssenkung um wohl ebenfalls einen Viertelprozentpunkt folgen“, schrieb Robert Greil, Chefstratege von Merck Finck. Zuletzt wurden sogar wieder Spekulationen auf einen großen Zinsschritt angeheizt. So sieht das frühere Fed-Mitglied William Dudley durchaus Spielraum für eine Zinssenkung um 0,5 Prozentpunkte. An den günstigen mittelfristigen Aussichten ändere die Größe des ersten Zinsschritts aber nichts, kommentierte Stephen Auth, leitender Investmentstratege beim US-Vermögensverwalter Federated Hermes. In jedem Fall stünden die Zeichen auf weiter sinkende Zinsen.
Allerdings könne die Fed wegen der hartnäckigen Inflation im Dienstleistungsbereich „nicht mit durchgedrücktem Gaspedal vom Zinsgipfel talwärts hinunterrasen“, warnte Marktanalyst Jochen Stanzl vom Handelshaus CMC Markets. Mit neuen Rezessionssignalen würde zudem sofort wieder Unsicherheit aufkommen. Ohne Rezession seien die Zinssenkungen jedoch ein Geschenk, „da sie das Gewinnwachstum der Unternehmen ohne bremsenden Effekt einer allzu starken wirtschaftlichen Abkühlung beflügeln“, so Stanzl.
Europaweit und auch hierzulande erholten sich Autowerte besonders deutlich von ihren jüngsten Verlusten. So stiegen Mercedes-Benz, BMW und Volkswagen zwischen 1,9 und 2,8 Prozent. Wie es in einem Bericht der Nachrichtenagentur Bloomberg hieß, drängt der Herstellerverband Acea auf eine Lockerung der Emissionsziele, die eigentlich 2025 greifen sollen. Zuletzt waren Stimmen lauter geworden, dass diese eine Bedrohung für die Branche seien. Zwei weitere wichtige Jahre bei der Umstellung auf Elektromobilität täten den Autobauern gut, schrieb Analyst Jose Asumendi von der US-Bank JPMorgan – unter anderem, um die Kostenbasis zu senken.
Auch die Anteilsscheine von Onlinehändler Zalando erholten sich stark und kletterten mit Kursgewinnen von 10,3 Prozent an die Dax-Spitze. Zuvor hatten sie seit Ende August rund 16 Prozent an Wert verloren. Dahinter setzte Siemens Energy den starken Lauf fort und stieg um 9,4 Prozent auf ein Hoch seit April 2021. Im aktuellen Jahr steuert das Kursplus des Energietechnikkonzerns nun schon fast auf 150 Prozent zu.
Rückenwind von US-Konkurrent Oracle schob die Aktien von SAP um 0,7 Prozent an. Zu einem neuen Rekordhoch reichte es für den Softwarekonzern aber knapp nicht. Oracle hatte am Vorabend eine langfristige Prognose abgegeben, die als Bestätigung der Wachstumstreiber des Unternehmens galt. Die operative Marge soll bis 2029 bei 45 Prozent liegen. Deutliche Kursbewegungen lösten außerdem Analystenkommentare aus. So zogen die Papiere des Gesundheitskonzerns Fresenius um 2,4 Prozent an. „Die Medizin beginnt zu wirken“, schrieb Analyst David Adlington von der US-Bank JPMorgan. Mit dem zweiten Quartal hätten die Bad Homburger zum vierten Mal in Folge die Erwartungen getoppt und der Gewinnrückgang sei gestoppt.
Unter den größten Gewinnern im Nebenwerte-Index SDax schnellten die Anteilsscheine des Maschinenbauers und Autozulieferers Dürr um 5,8 Prozent in die Höhe. Hier gab es Kaufempfehlungen von der britischen Bank HSBC und dem Analysehaus Kepler Cheuvreux. In der Kepler-Studie hieß es, eine Bodenbildung auf den Märkten, Maßnahmen zur Selbstoptimierung und eine Neuausrichtung des Portfolios rechtfertigten eine Neubewertung der Aktien.
Der Eurozonen-Leitindex EuroStoxx 50 beendete den Tag 0,62 Prozent im Plus bei 4.844 Punkten. An den Länderbörsen in Paris, London und Zürich legten die wichtigsten Indizes jeweils knapp ein halbes Prozent zu. In den USA stieg der Dow Jones Industrial zum europäischen Handelsschluss rund ein Prozent.
Der Euro knüpfte an seine Vortagesgewinne an und wurde zuletzt mit 1,1084 US-Dollar gehandelt. Am Rentenmarkt verharrte die Umlaufrendite bei 2,12 Prozent.
Wall Street mit starker Woche
Danach beendeten auch die US-Börsen haben eine starke Woche mit weiteren Gewinnen. Der Leitindex Dow Jones Industrial verabschiedete sich 0,7 Prozent fester mit 41.394 Punkten aus dem Handel. Für den marktbreiten S&P 500 ging es letztlich um 0,5 Prozent auf 5.626 Punkte hoch, und der technologielastige Nasdaq 100 legte um 0,5 Prozent auf 19.515 Punkte zu. Für die Woche erzielten Dow und Nasdaq 100 damit Kursgewinne von 2,6 beziehungsweise 5,9 Prozent.
Im bisherigen Wochenverlauf hatten bereits Verbraucher- und Erzeugerpreisdaten weitere Hinweise auf eine sich abschwächende Inflation in den USA geliefert. Nun stiegen auch die US-Einfuhrpreise im August weniger stark als zuletzt. Zudem hellte sich das von der Universität Michigan ermittelte Konsumklima im September den zweiten Monat in Folge und stärker als erwartet auf, was die Konjunktursorgen etwas mildern könnte. Die im Rahmen des Konsumklimas gemessene Inflationserwartung der Verbraucher auf Sicht von einem Jahr ging auf den niedrigsten Wert seit Ende 2020 zurück. Ökonomen hatten mit einem unveränderten Wert gerechnet.
Die Aktien von Oracle setzten am Freitag ihre Rekordjagd fort, behaupteten am Ende aber nur ein Plus von 0,4 Prozent. Der Softwarekonzern gab bei der Firmenmesse „CloudWorld“ eine optimistische mittel- bis langfristige Prognose ab. Bereits am Dienstag hatte Oracle gute Quartalszahlen vorgelegt und Zuversicht für die Geschäfte rund um KI in der hauseigenen Cloud-Infrastruktur verbreitet.
Die seit Monaten gebeutelten Aktien von Trump Media & Technology erholten sich um fast zwölf Prozent. Ihnen halfen Aussagen von Mehrheitsaktionär und US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump, er habe „überhaupt“ nicht die Absicht, seine Anteile zu verkaufen, wenn in der kommenden Woche eine Haltefrist abläuft.
Dagegen büßten die Papiere von Dow-Schlusslicht Boeing 3,7 Prozent ein. Zunächst belastete die Nachricht, dass die größte Gewerkschaft des Flugzeugbauers trotz Einkommenserhöhung und Standortzusagen in den Streik getreten ist. Dann verstärkten Überlegungen der Ratingagentur Moody’s, eine Bonitätsabstufung des Flugzeugbauers zu prüfen, den Abwärtsdruck deutlich.
Sehr unterschiedlich entwickelten sich die Anteilsscheine der Impfstoffhersteller Biontech und Moderna. Während Biontech mit einem Kursprung von 17,5 Prozent den jüngsten Aufwärtstrend beschleunigte und ein Kurshoch seit rund einem Jahr erreichte, ging es für Nasdaq-100-Mitglied Moderna um weitere zwei Prozent bergab. Anleger erwarteten von Biontech auf dem laufenden Kongress der European Society for Molecular Oncology „große Neuigkeiten“, schrieb ein Experte. Dagegen reagierten am Freitag Analysten mit Abstufungen der Moderna-Aktien auf den tristen Umsatzausblick vom Vortag.
Adobe überzeugte die Anleger mit seiner Umsatzprognose für das vierte Geschäftsquartal nicht, wie ein Kursrutsch von 8,5 Prozent zeigte. Damit waren die zuletzt gut gelaufenen Aktien größter Verlierer im Nasdaq 100. Der Photoshop-Anbieter hatte zuletzt zunehmend Künstliche Intelligenz in seine Software eingebaut. Einen Nachweis der Monetarisierung dieser KI-Funktionen blieb Adobe aber bislang schuldig. Auch die guten Zahlen zum abgelaufenen Quartal halfen den Aktien nicht.
Dagegen zählten die Aktien von Halbleiterunternehmen wie Micron, On Semiconductor und Applied Materials zu den größten Gewinnern. Die Titel des zuletzt wieder stark gefragten Branchenriesen und KI-Vorzeigeunternehmens Nvidia traten hingegen auf der Stelle.
Am US-Anleihenmarkt stieg der Terminkontrakt für zehnjährige Papiere. Die Rendite der Staatspapiere mit dieser Laufzeit sank auf 3,66 Prozent
Gemischte Aussichten
Bislang bleibt der September seinem Ruf als schwacher Börsenmonat bislang schuldig. Allen Unkenrufen zum Trotz präsentiert sich der deutsche Aktienmarkt bisher robust. Nach einer kleinen Schwächephase zu Beginn des Monats hat sich der Dax mittlerweile wieder gefangen. Seine Stabilität verdankt der Dax nicht zuletzt der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Mit ihrer jüngsten Zinssenkung haben die Währungshüter die Erwartungen der Märkte erfüllt. Und da die Notenbank in den beiden kommenden Jahren von nachlassendem Inflationsdruck ausgeht, stehen die Chancen für weiter sinkende Zinsen gut. „Wir rechnen mit quartalsweisen Senkungen von jeweils 25 Basispunkten, bis ein Niveau von etwa zwei Prozent erreicht ist“, prognostiziert Joachim Schallmayer, Leiter Kapitalmärkte & Anlagestrategie der DekaBank.
Mit diesem zwar langsamen, aber kontinuierlichen Zinssenkungspfad erhalten die Börsen einen stetigen geldpolitischen Rückenwind. „Der weitere Abstieg vom Zinsgipfel mindert nicht nur die Attraktivität der geldmarktnahen Anlagen“, betont Kapitalmarktstratege Robert Halber von der Baader Bank. „Er stimuliert vor allem nachhaltig die konjunkturellen und damit fundamentalen Auftriebskräfte der Aktienmärkte.“
Das gilt um so mehr, als auch die US-Notenbank in der kommenden Woche der EZB auf ihrem Zinspfad folgen dürfte. Unsicherheit herrscht lediglich über die Größe des ersten Schritts. Galten moderate 25 Basispunkte bislang als gesetzt, haben Medienberichte zuletzt wieder Spekulationen auf einen großen Senkungsschritt von 50 Basispunkten angeheizt.
Sollte es tatsächlich dazu kommen, wäre dies aber nicht nur positiv, sondern würde auch skeptische Stimmen bestätigen. „Ähnlich wie im Jahr 2021, als wir der Meinung waren, dass die Fed im Zinserhöhungszyklus zu spät dran war, sind wir jetzt verblüfft, dass sie es im Zinssenkungszyklus ebenfalls ist“, so Stephen Auth, leitender Investmentstratege beim US-Vermögensverwalter Federated Hermes. 50 Basispunkte wären daher angebracht, aber wahrscheinlich werde es die US-Notenbank bei einem kleinen Schritt belassen. „Mit hoher Wahrscheinlichkeit treten wir jetzt in einen verlängerten Zinssenkungszyklus ein“, so Auth.
Grünes Licht für die Börsen bedeutet das aber noch nicht. Denn bei allen positiven Vorgaben der Geldpolitik sollten die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen nicht außer Acht gelassen werden. „Klarheit darüber wird es erst geben, wenn das US-Wahlergebnis einschließlich Kongressmehrheit feststeht“, heißt es in einer Einschätzung der Landesbank Baden-Württemberg. „Bis dahin dürften sich die Anleger mit Neukäufen zurückhalten.“
Bei aller Konzentration auf die deutschen Standardaktien lohnt unterdessen ein Blick auf die Nebenwerte. Denn anders als die großen Titel sind die Aktien aus der zweiten Reihe günstig zu haben. (wr/baha/Bloomberg/dpa-AFX)