Börsenwoche: Wirecard-Musterverfahren, positives Grundrauschen in New York und Frankfurt

©peterschreiber.media /Adobe Stock
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In der langwierigen juristischen Aufarbeitung der Pleite des einstigen Börsen-Stars Wirecard ist am Freitag für Privatanleger das vielleicht entscheidende Kapitel aufgeschlagen worden: Das Bayerische Oberste Landesgericht in München eröffnete – aufgrund des großen Interesses in der ehemaligen Empfangshalle des Flughafens Riem – ein sogenanntes Kapitalanleger-Musterverfahren.

Bei diesem Verfahren geht es um die Frage, ob Anleger Schadenersatzansprüche aufgrund von falschen, irreführenden oder unterlassenen Kapitalmarktinformationen haben. Beklagte sind diesmal in erster Linie nicht die Wirecard-Manager, bei denen nicht mehr viel zu holen sein dürfte, sondern die weltweit tätige Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die in den Jahren vor der Pleite die Wirecard-Bilanzen testiert hatte. Daneben gehört auch der Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffé zu den Beklagten – nicht weil er sich persönliches Fehlverhalten vorhalten lassen müsste, sondern weil die Kläger die Chance auf Schadenersatz aus der Insolvenzmasse des Konzerns anmelden wollen.

Der Wirecard-Insolvenzantrag hatte im Sommer 2020 riesiges Aufsehen erregt. 1,9 Milliarden Euro, die als Aktivum in den Büchern standen, waren plötzlich nicht oder nicht mehr auffindbar gewesen. Die EY-Prüfer hatten über viele Jahre die Bilanzen von Wirecard freigezeichnet, erst im Juni 2020 verweigerten sie das Testat für den Jahresabschluss 2019. Der Zusammenbruch des Zahlungsverkehrsdienstleisters war nicht mehr aufzuhalten. Im Mai 2022 erklärte das Landgericht München I einer Klage Jaffes folgend die Bilanzen der Jahre 2017 und 2018 nachträglich für nichtig. Das öffnete den Raum, um zu versuchen, EY auf die Kursverluste, die infolge der im guten Glauben auf die Richtigkeit der Bilanzen getätigten Wirecard-Käufe entstanden sind, in Anspruch zu nehmen.

Eine große Zahl von Anlegern reichte dazu Einzelklagen beim zuständigen Landgericht München I ein. Im März 2022 leitete das Landgericht deshalb ein Kapitalanleger-Musterverfahren ein. In einem solchen Verfahren können Angelegenheiten, die sich in mindestens zehn individuellen Schadenersatzprozessen gleichlautend stellen, einheitlich und mit Bindungswirkung für alle Kläger entschieden werden.

Im Fall Wirecard gibt es nach Angaben des Gerichts knapp über 8500 Verfahren, die alle beim Landgericht München I hängig sind und Schadenersatzforderungen von insgesamt rund 750 Millionen Euro enthalten. Im März 2023 bestimmte das Bayerische Oberste Landesgericht schließlich einen Musterkläger, dessen Verfahren nun eröffnet wurde. Alle anderen Verfahren sind ausgesetzt worden, um das Musterverfahren abzuwarten. Rund 19 000 weitere Personen, die bisher keine individuellen Verfahren eingeleitet haben, haben ebenfalls Schadenersatzansprüche zum Kapitalanleger-Musterverfahren angemeldet. Damit wird die Verjährung unterbrochen, und sie können je nach Ausgang zu einem späteren Zeitpunkt ihre Ansprüche geltend machen.

Im Musterverfahren wird nun geklärt, ob die als richtig testierten, aber tatsächlich falschen Jahresabschlüssen, Schadenersatzansprüche begründen. EY bezeichnet die auf sie bezogenen Schadenersatzklagen als unbegründet. In der Tat ist schon die Frage umstritten, ob ein Testat überhaupt Gegenstand eines Kapitalanleger-Musterverfahrens sein kann. Nur wenn dies vom Gericht bejaht wird, hätten die Anleger Aussichten, Schadenersatz von EY oder einzelnen Prüfern zu erstreiten. Zudem käme es in einem nächsten Schritt darauf an, ob die Wirtschaftsprüfer fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt haben.

Das Musterverfahren klärt also, ob und gegen wen Schadenersatzansprüche begründet sind. Auf dieser Basis müssten dann die individuellen Verfahren wieder aufgenommen werden. Wahrscheinlich ist, dass EY im Falle eines die Ansprüche bejahenden Musterverfahrens-Urteils einen Vergleich anstrebt.

Dax mit postivem Wochenschluss

Auf die Börse hatte die Vergangenheitsbewältigung naturgemäß keinen Einfluss. Dort wird die Zukunft gehandelt, und die wird von der Mehrheit der Anleger eher optimistisch beurteilt. Der deutsche Aktienmarkt schloss am Freitag deshalb fester. Unerwartet schwache Wirtschaftsdaten aus den USA und der Eurozone schürten Hoffnungen auf weitere und stärkere Zinssenkungen dies- und jenseits des Atlantiks. Die Lage an den Börsen bleibe aber fragil, hieß es im aktuellen Börsenbrief Fuchs-Kapital. Die Autoren verwiesen insbesondere auf Risiken durch eine Eskalation des Ukraine-Krieges.

Der Leitindex Dax schloss nahe seines Tageshochs mit einem Plus von gut 0,9 Prozent bei 19.323 Punkten und schaffte damit einen Wochengewinn von rund 0,6 Prozent. Der MDax der mittelgroßen Börsenunternehmen gewann 1,2 Prozent auf 26.180 Punkte.

Auch an den anderen wichtigen europäischen Börsen ging es nach oben. Der Eurozonen-Leitindex EuroStoxx 50 legte um rund 0,7 Prozent auf 4.789 Punkte zu. In der Schweiz und Großbritannien wurden noch deutlichere Zuwächse verbucht. 

Im Euroraum trübte sich die Unternehmensstimmung im November unerwartet ein. Der Gesamtindikator fiel unter die Expansionsschwelle von 50 Punkten, was einen Rückgang der wirtschaftlichen Aktivitäten signalisiert. Die Zinssenkungen der Europäischen Zentralbank (EZB) hätten bisher noch keine Trendwende bewirkt, bemerkte Johannes Mayr, Chefvolkswirt beim Vermögensverwalter Eyb & Wallwitz. „Und der geopolitische Gegenwind wird 2025 wohl noch deutlich stärker. Auch deshalb wird die EZB die Zinsen weiter senken.“

Von dieser Aussicht profitierten am Freitag vor allem die Immobilienwerte, während Aktien von Banken das Nachsehen hatten. Vonovia gewannen im Dax 4,8 Prozent, im MDax legten TAG Immobilien und LEG um sechs beziehungsweise 5,8 Prozent zu. Deutsche Bank und Commerzbank lagen im Dax mit Abschlägen von 2,9 beziehungsweise 1,5 Prozent am Indexende.

Weit oben im Leitindex gewannen die Titel des Chemikalienhändlers Brenntag nach einer Kaufempfehlung der Berenberg Bank 4,4 Prozent. Nach dem schwachen Jahresverlauf sei nun der Zeitpunkt zum Einstieg gekommen, lautete die Empfehlung.

Die Aktien von Sartorius stoppten ihren wochenlangen Abwärtstrend und erholten sich um 3,5 Prozent. Seit Mitte Oktober hatten sie rund ein Viertel verloren. Im bisherigen Jahresverlauf gehören die Titel der Göttinger mit minus 36 Prozent zu den schwächsten Aktien im Dax.

Die Aktien von Evotec brachen nach einem zurückgezogenen Übernahmeangebot des US-Wirkstoffforschers Halozyme ein und verloren letztlich 15,6 Prozent auf 8,50 Euro. Die Amerikaner hatten den Hanseaten ein unverbindliches Angebot von elf Euro je Aktie unterbreitet.

Am Rentenmarkt stiegen die Kurse ein wenig; die Umlaufrendite fiel im Gegenzug von 2,26 Prozent am Vortag auf 2,18 Prozent. 

Wallstreet mit zwei Prozent Wochengewinn

Die US-Börsen setzten wenig später ihren Aufwärtstrend fort. Schwache Konjunkturdaten sorgten nur vorübergehend für einen Stimmungsdämpfer.

Der schon am Donnerstag besonders starke Leitindex Dow Jones Industrial legte um knapp ein Prozent auf 44.296 Punkte zu. Für den marktbreiten S&P 500 ging es um gut 0,3 Prozent auf 5.969 Punkte hinauf. Der technologielastige Auswahlindex Nasdaq 100 schaffte dagegen nur einen Kursanstieg um knapp 0,2 Prozent auf 20.776 Punkte – auch wegen deutlicher Verluste von Schwergewicht Nvidia, dessen Zahlen und Ausblick am Donnerstag nur mäßig angekommen waren. Sowohl Dow als auch Nasdaq 100 erzielten einen Wochengewinn von knapp zwei Prozent.

Der sogenannte „Trump Trade“ – also die Kauflaune seit der Wahl von Donald Trump zum künftigen US-Präsidenten – scheint weiterhin zu ziehen. Nach zwischenzeitlichen Gewinnmitnahmen hat die anschließende Erholung die nach seinem Sieg erreichten Rekordmarken wieder in Reichweite gerückt. So fehlen dem Dow dank seiner jüngsten Kursgewinne nur noch rund 0,4 Prozent zu seiner Bestmarke von 44.486 Punkten.

Das von der Universität Michigan erhobene Konsumklima belegte, dass sich die Stimmung der US-Verbraucher im November laut endgültigen Daten weniger als erwartet aufgehellt hat. Zudem fiel der Einkaufsmanagerindex für die Industrie schlechter als erwartet aus. Die Stimmung bei Dienstleistern war hingegen besser als von Experten vorhergesagt. Gleichzeitig erscheint der Spielraum der US-Notenbank Fed für weitere Leitzinssenkungen zur Ankurbelung der Wirtschaft begrenzt. Denn die von Trump geplanten Einfuhrzölle könnten die Inflation wieder in die Höhe treiben.

Unter den Einzelwerten sprangen Gap vor dem Wochenende anfangs um bis zu gut 17 Prozent in die Höhe. Am Ende behaupteten die Aktien ein Plus von fast 13 Prozent. Die Textilhandelskette hatte mit ihren Geschäftszahlen zum abgelaufenen Quartal die Erwartungen übertroffen und zudem den Ausblick angehoben.

Über ein Kursplus von nahezu 15 Prozent freuten sich die Anteilseigner von Elastic. Das Softwareunternehmen habe ein erfreuliches Erholungsquartal mit einer breit angelegten Stärke verzeichnet, schrieb Analyst Matthew Hedberg von der kanadischen Bank RBC. So habe das Umsatzwachstum die Markterwartung deutlich übertroffen.

Bei der Biotech-Firma Halozyme Therapeutics feierten die Anleger den Rückzug der Offerte für den deutschen Wirkstoffentwickler Evotec: Die Aktien zogen um mehr als sieben Prozent an. Dagegen ging es für die Aktien der Social-Media-Plattform Reddit nach dem Höhenflug insbesondere seit Ende Oktober um 7,2 Prozent bergab. Der Nachrichtenagentur Bloomberg zufolge will der Anteilseigner Advance Magazine Publishers seine Beteiligung zur Absicherung einer Kreditlinie verwenden. 7,8 Millionen Aktien würden in einer Preisspanne von 145,38 bis 148,54 angeboten, was einem achtprozentigen Abschlag auf den Schlusskurs vom Donnerstag entspricht. Gleichzeitig kaufe Advance Optionen auf die Aktie, um seinen Anteil abzusichern, wie die Agentur unter Berufung auf mit der Angelegenheit vertraute Personen berichtete. Seit dem Börsengang im März hat sich der Aktienkurs von Reddit mehr als vervierfacht.

Die Papiere von Intuit sanken um 5,7 Prozent. Das Softwareunternehmen hatte mit seinem Umsatz- und Gewinnausblick enttäuscht.

Der Euro setzte seine Talfahrt fort und erreichte den tiefsten Stand seit zwei Jahren. Konjunkturdaten aus der Eurozone hatten enttäuscht. Nach einem Rutsch bis auf 1,0333 US-Dollar zeigte sich die Gemeinschaftswährung zuletzt mit 1,0415 Dollar ein wenig stabilisiert. 

US-Staatsanleihen schafften knappe Gewinne. Die Rendite für Zehnjährige sank auf 4,41 Prozent. (baha/dpa/Reuters)

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