Paris (dpa) – Die Eltern werden alt – und ihre Kinder schreiben darüber. In der Gegenwartsliteratur rücken Mütter und Väter heute so stark ins Zentrum wie lange nicht mehr: mit Geschichten über Pflege, Rollenwechsel, schwierigen Beziehungen und der Frage, was erwachsene Kinder ihren Eltern schulden.
Besonders deutlich wird dieser Trend bei der Generation X, die mitten im Leben steht und plötzlich Verantwortung übernehmen muss, also grob die Jahrgänge 1965 bis 1980.
Das Thema füllt die Regale – nicht nur in Deutschland, sondern auch international. In Frankreich vergleichen Kritiker das literarische Jahr 2025 in einem Anflug von Zynismus sogar mit einem «Friedhofsbesuch».
Erfahrungen, die viele teilen
Ob Wolf Haas, Andrea Sawatzki, Daniela Dröscher oder Sylvie Schenk: Romane über Eltern sind seit einiger Zeit im Trend. Inzwischen geht es oft ums Krankwerden oder Sterben der Eltern. Feridun Zaimoglu schreibt etwa darüber. In «Sohn ohne Vater» wird die Fahrt zur Beerdigung seines Vaters zu einer inneren Reise. Das Werk des seit 1985 in Kiel lebenden türkischstämmigen Schriftstellers stand 2025 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.
Ebenfalls sehr intim, aber auf andere Weise, ist «Biarritz» von Andrea Sawatzki. Die Schauspielerin und Autorin schildert darin ihre Überforderung bei der Pflege ihrer demenzkranken Mutter und ihr schwieriges Verhältnis zu ihr. Schon 2022 hatte sie sich in «Brunnenstraße» mit der Demenz ihres Vaters auseinandergesetzt.
Wie heute über Eltern geschrieben wird
Sawatzki, Zaimoglu und andere schreiben von den Erfahrungen, die heute viele teilen: Hilflosigkeit, schlechtes Gewissen, Pflege, Rollenwechsel, Selbstbefragung. Ein weiterer Lesetipp: David Wagner schrieb in «Der vergessliche Riese» schon 2019 über einen dementen Vater.
Zu den bemerkenswerten Titeln zählt auch «Der Gärtner und der Tod» von Georgi Gospodinov. Darin beschreibt der bulgarische Bestsellerautor die Krebsbehandlungen seines Vaters und das Sterben, das er in der Wohnung begleitet – ein zutiefst persönlicher, unmittelbarer Blick auf Pflege, Verantwortung und Abschied.
Zwischen Fürsorge und Selbstprüfung
«Die schwindende Selbstbestimmung der Eltern greift auch unsere Selbstbestimmung an, ein Gut, das unserer Generation so unentbehrlich scheint», sagte der Berliner Schriftsteller Volker Kitz, Jahrgang 1975, in einem früheren Interview der dpa. Es sei eine Phase, in der sich Verantwortung verschiebe. Häufig beginne dieser Prozess mit einem stillen, aber deutlichen Moment der Erkenntnis: «Irgendetwas ist nicht mehr so, wie es war. Es muss sich etwas ändern – und ich bin dafür verantwortlich.»
Dieses Dilemma illustriert der Schriftsteller und Jurist eindringlich in seinem Buch «Alte Eltern. Über das Kümmern und die Zeit, die uns bleibt» (2024). Darin erzählt er von der Demenzerkrankung seines Vaters und den Jahren, in denen aus Fürsorge eine neue Form des Zusammenlebens entsteht.
Der Moment in der Lebensmitte
Ein Blick über den Atlantik zeigt, dass das Thema derzeit auch international Resonanz findet. Die amerikanische Autorin Molly Jong-Fast etwa blickt in «How to Lose Your Mother» fast therapeutisch auf ihre demenzkranke Mutter. Sie schrieb das Buch, weil sie das Gefühl hatte, dass dieser Moment in der Lebensmitte für die Generation X, der sie angehört, von großer Bedeutung sei, wie sie der «Vogue» sagte.
Dabei zeigt sie, wie aus der Sorge um andere eine existenzielle Selbstprüfung werden kann: «Ich fand diese Erfahrung, sich um Kinder zu kümmern und gewissermaßen im Schatten der Babyboomer zu stehen, wirklich interessant. Viele meiner Freunde machen das gerade durch.»
Nüchternheit und Blick auf den Alltag
Frühere Bücher über Eltern funktionierten oft wie Familienchroniken, in denen lange verschwiegene Tabus ans Licht kamen. Heute bestimmen dagegen biografische und soziale Realitäten das Erzählen: Verzicht auf Pathos, dafür Nüchternheit und der Blick auf den Alltag – das Telefonat mit dem Pflegeheim, der Geruch der leerstehenden Wohnung, der Satz, der unbeantwortet bleibt.
Auch Annie Ernaux’ «Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus» (2025) prägt den Trend. Die Nobelpreisträgerin gehört zwar nicht zur Generation X, hat aber als Ikone der Autofiktion sprachlich den Weg für die heutige Literatur über Eltern im Alter bereitet.
Autofiktion ist eine seit den 1970ern in Frankreich populäre Form zwischen autobiografischer Erfahrung und erzählerischer Freiheit, die auch hierzulande schon länger prominent in den Bücherregalen vertreten ist.
In dem bereits 1997 in Frankreich erschienenen Buch schildert Ernaux den geistigen Verfall ihrer demenzkranken Mutter – schonungslos und mit radikaler Klarheit.
Kommendes Jahr erscheinen weitere Titel zum Thema. Anfang 2026 etwa Julia Decks Roman «Die Wahrheit über Ann», der in Frankreich bereits veröffentlicht wurde. Darin schildert die 51-Jährige die Pflege einer alternden Mutter und die langsame Entdeckung eines biografischen Geheimnisses.



