„Der Tod hat mein Leben lebendiger gemacht“

Foto: Henning Kretschmer
Foto: Henning Kretschmer

Julia Kreuch tütete sechs Jahre lang große Deals für Xing ein – bis das Thema Tod und Trauer in ihr Leben trat und sie nicht mehr losließ. Gemeinsam mit Renske Steen gründete sie auf St. Pauli das Bestattungsunternehmen Faarwel und bringt frischen Wind in eine konservative Branche.

von Sandra Berthaler

„Und was machst du so beruflich?“ Wenn Julia Kreuch auf Partys diese Frage gestellt bekommt, überlegt sie genau, was sie antwortet. Denn Julia, 42, ist Bestatterin. „Es gibt dann zwei Lager. Die einen, die nur ein betretenes ‚Oh‘ herausbringen und eine Ausrede suchen, um schnell aus der Situation rauszukommen. Und die anderen, die ganz viele Fragen haben und mir eineinhalb Stunden an den Lippen kleben“, erzählt sie lachend. „Ganz ehrlich, manchmal sage ich einfach, ich bin noch bei Xing.“ Sechs Jahre lang arbeitete Kreuch für das namhafte Jobnetzwerk im Partnervertrieb und verhandelte mit Agenturen Verträge für Endkunden. Ein begehrter, gut bezahlter Job, mit dem die gebürtige Oberfränkin zufrieden war.

Wöchentlich zur Massage

Dass sie mal im Vertrieb landen würde, war nicht absehbar. Julia studierte Deutsche Literatur und Geschichte und ging danach für ein Praktikum nach Shanghai, um für die erste deutsche Bäckerei Chinas zu arbeiten. Nach den drei Monaten Praktikum wollte Julia nicht zurück nach Deutschland. Und es ergab sich ein Job in der Friedrich-Ebert-Stiftung. „Ich habe dort eineinhalb Jahre als Programmmanagerin gearbeitet und internationale Politikkongresse organisiert. Ich hatte eine super Wohnung mit Blick über Shanghai. Wir haben ständig gefeiert, sind nur Taxi gefahren und gingen einmal die Woche zur Massage“, erinnert sie sich. 

Nach ihrer Rückkehr zog sie nach Zürich, arbeitete im Vertrieb einer Agentur für Recruiting-Lösungen. 2015 ging sie nach Hamburg und fing bei Xing an. „Xing war ein top Arbeitgeber. Man konnte gutes Geld verdienen, und die Arbeit im Team hat richtig Spaß gemacht. Wir haben viel gefeiert. Wenn wir unsere Ziele erreicht haben, wurden wir alle für ein Kick-off nach Mallorca oder Valencia geflogen. Klar, wir mussten arbeiten, wir mussten verkaufen, irgendwoher musste die Kohle ja kommen. Aber wenn die Kohle da war, wurde sie auch für uns ausgegeben.“ 

Trotzdem kamen ihr Zweifel. „Xing war fein. Ich habe keine Kinderarbeit unterstützt oder Waffen verkauft. Ein paar Stellenanzeigen oder Employer-Branding-Profile zu verkaufen tut niemandem weh. Aber mir fehlte die Sinnhaftigkeit. Dazu kamen Lebensumbrüche. Ich habe mich von meinem Mann getrennt, war Mitte 30 und fing an zu suchen: Warum bin ich hier? Was will ich mit diesem Leben machen?“ 

In dieser Zeit kam sie mit ihrer mexikanischen Schwägerin Carolina ins Gespräch über den Tod. „Sie erzählte mir, wie man in Mexiko mit dem Tod umgeht. Dort sind sie natürlich genauso traurig wie wir, aber sie wandeln die Trauer viel schneller in Dankbarkeit um und ehren ihre Verstorbenen. Deshalb wird am ‚Día de los muertos‘ auf dem Friedhof gefeiert und zwischen den bunt geschmückten Gräbern ein Picknick veranstaltet. Auch eine Beerdigung machen sie ganz anders: Als Carolinas Mutter starb, wurde sie im Sarg durch die Straßen gefahren und sogar in ihr Büro gebracht, damit sich ihre Kollegen von ihr verabschieden konnten. Alles ist etwas offener und freundlicher, das fand ich schön.“ Drei Jahre beschäftigte sich Julia mit Tod, Trauer und Beerdigungen und stellte sich die Frage: Wa­rum ist das bei uns in Deutschland alles so steif und trist? Als Corona kam, entschied sie sich, zwei Wochen Urlaub bei Xing zu nehmen, um ein Praktikum zu machen bei Eric Wredes „Lebensnah“ in Berlin – ein Unternehmen, das individuelle und alternative Bestattungen anbietet. 

„Mein erster Kontakt mit einer Toten war ein Gewaltverbrechen – eine Frau, die von ihrem Mann erstochen wurde. Ich bin dort mit zwei Bestatterinnen hingefahren, die mich an die Situation herangeführt haben. Trotzdem ist mir erst mal der Atem weggeblieben. Es war so krass, die eigene Spezies dort tot liegen zu sehen und dann auch noch eine Frau in meinem Alter.“ Was Julia beeindruckte, war, wie die beiden Bestatterinnen an die Verstorbene herangetreten sind. „Sie sagten: ‚Ach Mensch, Frau X. Wir sind jetzt da und kümmern uns um Sie. Wir machen Sie gleich fertig, und nachher kommt Ihre Mutter, um sich von Ihnen zu verabschieden.‘ Das war so natürlich – mit sehr viel Respekt und Würde. Das hat mir sehr geholfen. Zehn Minuten später habe ich der Verstorbenen die Haare gewaschen.“ 

Ein weiterer Schlüsselmoment war die Begleitung der Mutter. „Es war fürchterlich, zuzusehen, wie sie sich von ihrer Tochter verabschieden musste. Sie war so verzweifelt und hat viel geweint. Aber sie hatte sehr viel Zeit, das alles in ihrem Tempo zu tun. Nach zwei Stunden kam sie zu mir, um sich zu bedanken. Sie meinte, es hätte ihr so viel bedeutet, wie liebevoll wir mit ihrer Tochter umgegangen seien. Das würde alles etwas leichter machen – auch, dass wir Frauen sind. Da dachte ich: Ach guck, man kann mit seiner Arbeit auch einen echten Unterschied machen und sehr schnell viel zurückbekommen.“ 

Kündigung aus dem Bauch heraus 

Nach diesem Praktikum war Julia klar, dass sie Bestatterin werden wollte. „Ich hatte zum ersten Mal verstorbene Menschen gesehen, sie versorgt und gemerkt: Das kann ich. Die Verstorbenen kommen nicht in meine Träume oder an mein Bett.“ Doch komplett bei Xing aufzuhören kam nicht infrage, denn als Bestatterin hätte sie nur die Hälfte verdient. Also entschied sich Julia, bei Xing auf 80 Prozent zu reduzieren und zehn Stunden pro Woche im Bestattungsunternehmen Lotsenhaus vom Hospiz Hamburg Leuchtfeuer zu arbeiten, wo sie von der Versorgung der Toten, der Begleitung der Angehörigen bis hin zur Bestattung mit all dem zugehörigen Papierkram alles beigebracht bekam. „Um die beiden Jobs übereinander zu bekommen, habe ich morgens bis abends durchgearbeitet. Das brachte mich auch körperlich an meine Grenzen“, erinnert sie sich. Nach einem Jahr entschied sich Julia 2021 „aus dem Bauch heraus“, bei Xing zu kündigen und in Vollzeit als Bestatterin im Lotsenhaus zu arbeiten.

Dort lernte sie Renske Steen kennen. Die beiden verstanden sich sofort und beschlossen Anfang 2024, ihr eigenes Bestattungsunternehmen zu gründen: Faarwel. Doch schon die Suche nach einer Immobilie mit Kühlung und Versorgungsraum war eine Herausforderung. „Keiner will sich den Tod ins Haus holen“, erklärt Julia. „Also haben wir uns von der Idee mit der Kühlung verabschiedet und uns auf die Suche nach einem Ladenlokal mit Büro gemacht, wo wir die Angehörigen beraten können.“ Mitten in der Stadt, auf St. Pauli, wurden sie fündig. „Unsere Verstorbenen werden jetzt durch ein Überführungsunternehmen nach Ohlsdorf ins Krematorium gebracht, wo riesige Kühlhallen sind. Das ist die perfekte Lösung für uns.“ 

Limo und Süßigkeiten

Faarwel möchte frischen Wind in die Bestatterbranche bringen. „Wir wollen den Tod wieder mehr ins Leben rücken – ihn normalisieren“, sagt Julia. Das fängt schon bei ihrem Laden an. „An unseren Fenstern hängen keine komischen Lamellenvorhänge mit Sinnsprüchen, wir sind sehr hell, offen und einsehbar. Wenn wir die Familien begrüßen, bieten wir Limo und Süßigkeiten an, und wir nehmen uns Zeit für sie, um herauszufinden, was für ein Mensch der Verstorbene war und welche Art von Beerdigung zu ihm gepasst hätte. Wir stülpen nichts über, wir öffnen Türen.“ 

Von der klassischen Erdbestattung mit Pastor bis zur Trauerfeier im Ruderclub oder in der Lieblingskellerkneipe des Verstorbenen: Faarwel ermöglicht viel und kommt den Klienten entgegen, auch finanziell. Wenn eine Familie Geldsorgen hat, geben ihr Julia und Renske die Möglichkeit, so viel wie möglich selbst zu machen, auch die Trauerfeier. „Wir hatten eine verstorbene Dame, die ihren Schrebergarten sehr geliebt hat. Die Familie hatte Probleme, das Geld für die Beerdigung zusammenzubringen. Also haben wir die Trauerfeier im Schrebergarten gemacht. Das war so schön und hat nichts gekostet.“ 

Um Tod und Trauer nahbarer zu machen, geben Julia und Renske auf Instagram unter @faar.wel Einblicke in ihren Arbeitsalltag. Auch einen Buchclub, Seminare und Festivals haben sie im Angebot. In der eher konservativen Bestatterbranche werden die beiden jungen Frauen kritisch beäugt. „Die Bestatterszene ist immer noch männerdominiert, und die meisten haben das Unternehmen ihrer Eltern übernommen“, sagt Julia. Dass immer mehr Frauen in die Branche wollen, überrascht sie nicht. „Frauen sind die besseren Bestatter. Ich finde, sie sind feinfühliger. Viele Angehörige und Sterbende kommen gezielt zu uns, weil wir Frauen sind.“ Darunter Frauen, die ein Leben lang sexuelle Gewalt erfahren haben oder Probleme mit ihrem Körper haben und nicht möchten, dass ein Mann sie nach ihrem Tod sieht. „Auch homosexuelle Männer wollen nach ihrem Tod nicht an einen homophoben Bestatter geraten“, sagt Julia. 

In ihrem Alltag begegnen ihr viele Schicksale, die unter die Haut gehen – auch die Beerdigung von Babys und Kindern. „Solche Situationen gehen tief, und natürlich bleiben die Augen nicht trocken“, erzählt sie. „Aber ich muss diejenige sein, die professionell ist und Ruhe vermittelt. Als Bestatterin braucht man eine natürliche Abgrenzung. Sonst kann man den Job nicht machen.“ 

Ihre Arbeit ist zeitintensiv. 50 bis 60 Stunden pro Woche sind es aktuell. „Das ist aber nicht nur die Bestatterei. Wir waren zusätzlich mit der Gründung beschäftigt“, erklärt Julia, die nach wie vor von ihrem Ersparten aus Xing-Zeiten zehrt. „Es läuft zwar gut, aber wir sind noch nicht so weit, dass wir uns ein riesiges Unternehmergehalt auszahlen können.“ Doch sie ist optimistisch, dass sich das in naher Zukunft ändert. Den Jobwechsel hat sie noch keinen Tag bereut. „Ich bin jetzt wesentlich dankbarer und zufriedener. Und durch die Selbstständigkeit ist alles ein bisschen aufregender. Man könnte fast sagen, der Tod hat mein Leben lebendiger gemacht.“

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