Wir leben in einer Zeit des Umbruchs – im Zeitalter der Post-Globalisierung. Die Phase intensiver weltweiter Verflechtungen seit den 1990er-Jahren hat Wachstum gefördert, Märkte geöffnet und den Austausch von Wissen, Kapital und Menschen beschleunigt und gleichzeitig Krisenanfälligkeit, ökologische Belastungen und soziale Spannungen mit sich gebracht. Seit der Pandemie, dem Krieg in der Ukraine und dem Anstieg geopolitischer Konflikte erleben wir eine Rückbesinnung auf nationale Interessen, Protektionismus und Abgrenzung.
Ein Gastbeitrag von Helen Yuanyuan Cao
Während die Entwicklung hin zu einer post-globalisierten Welt für viele in erster Linie ein wirtschaftliches oder politisches Thema ist, bedeutet sie für mich auch etwas sehr Persönliches. Denn ich bin gewissermaßen selbst ein „Produkt” der Globalisierung. Anfang der 1990er-Jahre, im Zuge der Öffnung Chinas gegenüber der Welt, kam ich als Kind nach Deutschland. Mein Vater, ein Wissenschaftler, erhielt eine Einladung zu einem Forschungsaufenthalt. Meine Mutter und ich folgten ihm – in der Hoffnung, dass sich für unsere Familie und vor allem für mich neue Wege für die Zukunft eröffnen würden. Als Elfjährige sprach ich, wie meine Eltern, kein Wort Deutsch. In der Schule einer deutschen Großstadt lernte ich die Sprache, während meine Mutter in einem internationalen Unternehmen Arbeit fand. Bald galten wir als positives Beispiel gelungener Integration. Mit 18 Jahren wurde ich zusammen mit meinen Eltern eingebürgert.
Das frühe Erleben verschiedener Kulturen weckte meine Neugier auf die Welt. Ich studierte in Deutschland, Frankreich und den USA und arbeitete über zwei Jahrzehnte in internationalen Unternehmen – von einer amerikanischen Unternehmensberatung in Deutschland über ein deutsches Biotech-Unternehmen in den USA bis hin zu einem US-amerikanischen Medizintechnikkonzern in Belgien und der Schweiz. Heute unterrichte ich Studierende in der Schweiz im Fach Innovation und berate international Unternehmen in der Life Sciences-Industrie. Seit Beginn meiner Karriere arbeite ich mit Teams aus aller Welt – mit dem Ziel, Perspektiven zu verbinden und Innovationen global auf dem Markt zu bringen.
In einer zunehmend vernetzten Welt entstehen immer mehr Familien, deren Wurzeln sich über mehrere Kontinente erstrecken. Mein Lebenspartner stammt aus Lateinamerika, unsere Familie verbindet drei Kontinente und vier Sprachen, die wir auch an unsere Kinder weitergeben. Oft werden wir als „Global Citizens“ bezeichnet – ein Begriff, der für uns nie abstrakt war, sondern gelebte Realität. Unser Kindergartenkind schaut gerne die Weltkugel an und erklärt mir, dass in Europa Tag ist, wenn in China Nacht ist – und dass sich die Erde einfach weiterdreht, bis es bei uns dunkel wird und in China wieder hell. Solche Momente machen mich stolz und dankbar. Sie zeigen mir, wie bereichernd es ist, in verschiedenen Kulturen zu Hause zu sein – und dieses Verständnis an die nächste Generation weiterzugeben.
Lange war ich überzeugt, dass die Internationalität meiner Kinder ihnen eine gute Grundlage für die Zukunft bieten würde. Doch mit dem Wandel hin zu einer weniger globalisierten, weniger kooperationsorientierten Welt bin ich mir da nicht mehr so sicher. In stillen Momenten, wenn meine Familie schläft, frage ich mich immer öfter: Was bedeutet es heute, ein „Global Citizen“ zu sein – in einer Welt, die sich zunehmend abschottet?
In einer Zeit, in der nationale Interessen wieder dominieren, kann Global Citizenship bedeuten, sich mehreren Orten zugehörig zu fühlen und gleichzeitig nirgends ganz dazuzugehören. Die Frage nach Zugehörigkeit begleitet internationale Familien seit jeher. Doch während sie früher vor allem eine Frage der Identität war, fühlt sie sich heute existenzieller an. Wird die Internationalität meiner Kinder ein Vorteil bleiben oder könnte sie im gegenwärtigen Zeitgeist sogar zum Nachteil werden?
Noch vor wenigen Jahren hätte ich mir solche Gedanken nicht vorstellen können. Heute suche ich gezielt das Gespräch mit anderen internationalen Familien. Viele empfinden ähnlich, doch nur wenige sprechen offen darüber. Vielleicht, weil es schwer in Worte zu fassen ist. Oder weil es Angst macht. Diese Gedanken lassen mich nicht los. Sie sind der Grund, warum ich diesen Beitrag schreibe.
Was ist die Rolle von „Global Citizens“ in einer post-globalisierten Welt?
Je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir: Menschen mit Erfahrung in kultureller Pluralität und globalem Denken sind heute nicht nur wichtig – sie sind wichtiger denn je. Gerade in Zeiten tiefgreifender Umbrüche braucht es Menschen, die Komplexität aushalten, unterschiedliche Perspektiven verstehen und Brücken bauen können. Es braucht mehr Empathie, nicht weniger. Mehr Offenheit, nicht Rückzug. In einer Welt, in der internationale Verflechtungen neu austariert werden, befinden sich Staaten, Unternehmen und Organisationen im Wandel. Gerade jetzt sind global denkende Individuen gefordert. Global Citizenship steht nicht im Widerspruch zum Lokalen, sondern ergänzt es. Es lädt dazu ein, andere Perspektiven wertzuschätzen und gemeinsam über Grenzen hinweg zu handeln.
Post-Globalisierung bedeutet nicht das Ende internationaler Zusammenarbeit, sondern ihre kritische Neuordnung.
Hier können „Global Citizens“ eine zentrale Rolle spielen: als Gestalter:innen dieses Wandels – mit Empathie und einem tiefen Verständnis für Pluralität.
Ich wünsche mir, dass meine Kinder eines Tages einen positiven Beitrag für diese Welt leisten und dass Menschen, die verbinden statt trennen, wertgeschätzt werden. Der „Future of Jobs Report 2025“ des World Economic Forums unterstreicht diese Hoffnung: In einer breit angelegten Umfrage unter über 1.000 globalen Unternehmen wird „Global Citizenship“ als Schlüsselkompetenz für die Arbeitswelt der Zukunft genannt. 25 % der befragten Unternehmen prognostizieren einen Anstieg ihrer Relevanz in den nächsten fünf Jahren – insbesondere im Kontext von geoökonomischer Fragmentierung, Klimawandel und wachsendem digitalem Zugang. Global Citizenship ist kein Auslaufmodell. Es ist eine Haltung, die wir heute mehr denn je brauchen.
Zur Person: Die Autorin verbindet 15 Jahre internationale Führungserfahrung in der Life Sciences-Branche mit ihrer Tätigkeit als Hochschuldozentin für Innovation und als Beirätin. Sie wurde vom Capital Magazin als eine der „Top 40 unter 40“ Deutschlands ausgezeichnet und ist Mitglied des Netzwerks Generation CEO e.V. für weibliche Führungskräfte. Geprägt von ihrer persönlichen Migrationsgeschichte ist sie davon überzeugt, dass Global Citizenship eine Haltung ist, die unsere Zukunft mitgestalten kann.