DWS-Fondsmanagerin Lilian Haag: „Das abgelaufene Jahr war der perfekte Sturm“

DWS-Fondsmanagerin Lilian Haag

2022 gab es eine Anhäufung von Krisen, wie in kaum einem anderen Jahr. Wir haben DWS-Fondsmanagerin Lilian Haag gefragt, worauf wir uns 2023 einstellen müssen. 

Von Isabell Angele

courage-online.de: Wie haben Sie das abgelaufene Börsenjahr erlebt? 

Lilian Haag: Seit ich 1996 in dieser Branche angefangen habe, habe ich schon einige Krisen erlebt. Aber ein Jahr, in dem geballt so viele Krisen aufgetreten sind, war nicht dabei. Allein den Krieg in der Ukraine hatte niemand so erwartet. Damit ging eine Explosion der Rohstoffpreise einher, die den Inflationsdruck erhöht hat. Das wiederum hat dazu geführt, dass die Zentralbanken die Zinsen erhöhen mussten. Auch dieses Thema hat an den Märkten natürlich für Unruhe gesorgt. Parallel dazu haben uns die Corona-Nachwehen, anhaltende Lockdowns in China sowie weiterhin auftretende Lieferketten-Probleme in Atem gehalten. Letztere haben sich im Laufe des Jahres zwar weitgehend aufgelöst, waren aber natürlich ein Belastungsfaktor. Gleichzeitig hatten wir durch den Mangel an Fachkräften sehr angespannte Arbeitsmärkte. Das hat das Durchstarten nach der Covid-Krise gehemmt.  

Und jetzt rutschen wir in eine Rezession. 

Genau, das Problem hat sich von einem Angebots- und zu einem Nachfrageproblem entwickelt. In der ersten Jahreshälfte hatten wir nicht genug Rohstoffe, nicht genug Energie und nicht genug Arbeitskräfte. Und jetzt zielen die Zentralbanken mit den Zinserhöhungen darauf ab, die Nachfrage abzukühlen, um die Inflation herunterzubringen. Und das mündet dann in eine Rezession – ob leicht oder schwer, bleibt abzuwarten. Auf dem Weg dahin hatten wir nur eine kurze Konjunkturerholung. An den Börsen haben die Zinserhöhungen dafür gesorgt, dass die Wachstumswerte extrem korrigiert haben – also gerade die Aktien, die in den letzten knapp zehn Jahren die Börse befeuert haben. Bedingt durch die Zentralbankpolitik gab es 2022 außerdem enorme Währungsbewegungen. Der US-Dollar hat etwa gegenüber den meisten anderen Währungen massiv aufgewertet. Für einige Unternehmen in den USA, die Gewinne in Europa erzielen, ist das natürlich nicht einfach gewesen und hat auch zu Verwerfungen geführt. Alles in Allem kann man sagen, dass wir das abgelaufene Jahr als einen perfekten Sturm wahrgenommen haben. 

Noch mal zur Rezession: Wie hoch schätzen Sie dieses Risiko ein, dass diese durch den straffen Zinskurs der Notenbanken befeuert wird? 

Per Definition bedeutet eine Rezession ja ein negatives Wirtschaftswachstum über einen Zeitraum von mindestens zwei Quartalen. Von daher würde ich sagen, dass wir sowohl in den USA als auch in Europa mit einer Rezession rechnen müssen. Die eigentliche Frage ist, wie schwer sie ausfallen wird. Bei der DWS rechnen wir wegen des aktuell starken Arbeitsmarktes damit, dass das Konsumentenvertrauen einigermaßen stabil bleibt, die Konsumnachfrage nur leicht abschwächt und es eine eher milde Rezession wird. Ein moderater Zinskurs wäre bei der derzeitigen Inflation riskant, ein zu harter Kurs könnte in eine tiefere Rezession führen. Allerdings sieht man auch, dass schlechte Konjunkturdaten bei den Börsenakteuren sofort wieder die Hoffnung schüren, dass die Zentralbanken bereits Ende nächsten Jahres die Zinsen wieder senken könnten. Dies führt immer wieder zu Kursanstiegen. Aber wenn man die Bewertungen an den Aktienmärkten betrachtet, dann sind sie trotz des jüngsten Kursverfalls immer noch zu hoch für das aktuelle Zinsniveau. Zum Vergleich: Während Corona waren die Aktienbewertungen ähnlich hoch wie jetzt, aber damals lagen die Zinsen zwischen 1,5 und 2,0 Prozent – inzwischen sind wir bei 3,8 Prozent. Das spiegelt sich in den Bewertungen nicht wider. Müsste es aber, denn die lockere Geldpolitik der letzten Jahre dürfte vorerst zu Ende sein. 

Welche Erwartungen haben Sie für 2023? 

Wir denken, dass der Arbeitsmarkt ein sogenanntes „soft landing“ macht. Wir rechnen also nicht mit einer Flut an Arbeitslosigkeit, sondern damit, dass der strukturelle Mangel an Arbeitskräften hilft, den Arbeitsmarkt zu stützen. Für die Konjunktur ist das der Idealfall: Die Arbeitnehmer empfinden ihren Arbeitsplatz als sicher und konsumieren weiter. Deshalb gehen wir davon aus, dass die Wirtschaft im kommenden Jahr von der Nachfrageseite her nicht einbricht. Ab dem Sommer hoffen wir auf etwas Entspannung im Hinblick auf die Inflation und die Arbeitsmarktsituation. In den USA sehen wir deshalb für 2023 ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 0,4 Prozent, in der Eurozone von 0,3 Prozent. Für 2024 rechnen wir dann wieder mit einer stärkeren Erholung: Für die USA erwarten wir hier 1,3 Prozent Wachstum und für den Euroraum 1,2 Prozent.  

Gibt es Risiken, die man besonders im Blick haben sollte? 

Grundsätzlich ist es so, dass man sich in Krisenzeiten immer fragen sollte, welche Ansteckungsmöglichkeiten es für andere Bereiche des Finanzmarktes gibt. Ein kritischer Bereich ist im Moment der Immobilienmarkt, wo die Finanzierung zuletzt deutlich teurer geworden ist: In Amerika ist es häufig so, dass Immobilienkäufer:innen keine feste Zinsbindung haben. In Zeiten fallender Zinsen konnten sie also beispielsweise von 1,5 Prozent auf 1,2 Prozent Zinsen umschulden und so die monatliche Belastung reduzieren. Aber das wirkt in Zeiten steigender Zinsen natürlich auch in die andere Richtung. Irgendwann muss der Kredit umgeschuldet werden und dann steigt die monatliche Belastung. Das kann sich entsprechend negativ auf das Konsumverhalten und auch auf die Immobilienpreise auswirken. Hierauf sollte man auf jeden Fall ein Auge haben. 

Apropos Krisen: Die Inflation lag zuletzt bei rund zehn Prozent. Wohin geht die Reise? 

Für 2023 prognostizieren wir 6,0 Prozent Teuerung im Euroraum und 4,1 Prozent in den USA. Bis 2024 dürfte die Teuerungsrate sogar noch weiter nach unten gehen. Im Euroraum erwarten wir 2,7 Prozent und in den USA 2,4 Prozent. Wir sehen schon jetzt, dass erste Rohstoffpreise wie Gas oder Öl nachgeben. Ich denke daher schon, dass die Inflation etwas zurückkommen könnte.  

Die Notenbanken haben mittlerweile alle mit Zinsanhebungen auf die steigende Inflation reagiert. Sind die Bemühungen ausreichend, um die Inflation in den Griff zu bekommen? 

Das ist ein sehr schmaler Grat. Global gesehen haben die Notenbanken allesamt zu spät auf die Entwicklungen reagiert. Die Europäische Zentralbank (EZB) war dabei noch später dran. Sie kann wegen der europäischen Probleme wie beispielsweise der Schuldensituation in Griechenland oder Italien nicht so flexibel reagieren. Deshalb erwarten wir auch für die Eurozone eine höhere Inflationsrate als für die USA. Die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) hat mit ihren Zinsanhebungen derweil sehr entschlossen und richtig agiert. Denn es geht nicht nur darum, die Inflation einzugrenzen, sondern auch darum, das fast verspielte Vertrauen in die Institution zurückzugewinnen. Ob die Zinsanhebungen ausreichen, ist allerdings sehr schwer zu sagen. Der Spagat, den die Zentralbanken zu leisten haben, ist es, das Vertrauen zurückzugewinnen und die Inflation zu bekämpfen, aber andererseits die Zinsen nicht zu stark zu erhöhen, da das die Konjunktur komplett abwürgen könnte.  

Ein weiterer Belastungsfaktor waren im vergangenen Jahr die coronabedingten Lieferkettenschwierigkeiten, die sich bis jetzt nicht gänzlich aufgelöst haben. Wie geht es im kommenden Jahr weiter? 

Ich habe zuletzt mit einigen produzierenden Unternehmen gesprochen. Sie alle sehen eine Entspannung der Lage, insbesondere beim Transport auf See- und Landweg. Ein Unsicherheitsfaktor bleibt allerdings China: Zwar klingt es langsam so, als ob die Kommunistische Partei die Zügel rund um die Null-Covid-Politik lockert, aber das bedeutet noch lange kein grünes Licht für uns. Über den Winter wird es dort je nach Situation in den Krankenhäusern immer wieder partielle Lockdowns geben. Das hat natürlich weiterhin Auswirkungen auf die globalen Lieferketten. Das dürfte ab dem Frühjahr, wenn die Erkältungszeit abklingt, besser werden und so erwarten wir in der zweiten Jahreshälfte ruhigeres Fahrwasser.  

Auf politischer Ebene ist derweil kaum ruhiges Fahrwasser in Sicht. Den Krieg in der Ukraine hatte beim vergangenen Jahresausblick niemand auf dem Schirm. Welche Bremsspuren hinterlässt der Konflikt künftig noch an den Märkten? 

Kurz- bis mittelfristig haben wir auf jeden Fall eine regionale, politische Destabilisierung in der Ostregion. Diese zahlreichen Krisenherde werden erstmal bestehen bleiben. Das betrifft auch den Konflikt zwischen Russland und der NATO, wo es jüngst vermehrt zu „Kriegsunfällen“ kommt wie zuletzt die verirrte russische Rakete, die aus Versehen in Polen landete. Das macht bei uns einerseits die Aktienmärkte nervös und andererseits müssen wir davon ausgehen, dass die Verteidigungsausgaben steigen werden. Zudem stellt sich auch die Frage, wie moralisch Europa in Zukunft bei der Energieversorgung bleiben kann. Europa kann sich zwar von Russland lösen, was aber langfristig mit höheren Energiekosten verbunden ist. Dies belastet dann wieder die Konsumenten. 

Und wie steht es um die Situation mit China? 

Wir glauben, dass China sich nicht mehr in dem bisher gewohnten Maße in die internationale Arbeitsteilung eingliedern wird. Das liegt natürlich auch am Westen, der nach den Lockdown-Erfahrungen natürlich versucht, seine Lieferketten zu diversifizieren. Zudem möchte die USA die eigenen Technologien schützen, insbesondere bei Halbleitern. Die Produktionsstätten dürften demnach aus China abgezogen und ins eigene Land zurückgeholt oder in befreundete Länder verlagert werden. Auch das führt natürlich zu höheren Preisen bei uns. Die Gemengelage für die nächsten ein bis zwei Jahre wird also nicht einfach.  

Was bedeutet das für die Börsen und wie sollten sich Anleger:innen in diesem Umfeld positionieren? 

Klar, zuletzt war es etwas holprig, aber wenn man die letzten 150 Jahre betrachtet, haben Aktien im Schnitt sechs bis sieben Prozent per annum zugelegt. Deshalb denke ich, dass es jetzt eine gute Gelegenheit ist, bei diesen günstigeren Kursen einzusteigen – beispielsweise mit einem langfristigen Sparplan. Bei der DWS bleiben wir derzeit auf der Aktienseite noch eher defensiv und schauen im Frühjahr, wann wir wieder aus der Rezession rauskommen. Ich denke auch nicht, dass die Unternehmensergebnisse auf dem Level bleiben werden, wo sie derzeit sind. Sie müssen sehr wahrscheinlich nach unten korrigiert werden. Aber wenn das passiert ist, also die Analysten und die Unternehmen ihre Zahlen nach unten angepasst haben, dann hat man reinen Tisch gemacht – und Aktien können dann wieder richtig attraktiv sein. Wir raten deshalb vorerst zu einer defensiveren Strategie und dazu, auf strukturelle Trends wie alternative Energien, Friend-Shoring, also den Fabrikaufbau in der Heimat sowie in verbündeten beziehungsweise befreundeten Ländern, oder die Halbleiterproduktion zu setzen. Angesichts der gestiegenen Renditen sind beispielsweise auch Unternehmensanleihen mit einer guten Bonität derzeit eine interessante Option. 

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