Berlin (dpa) – Die deutsche Kolonialgeschichte war kurz und blutig. In der Erinnerungskultur spielte sie über Jahrzehnte kaum eine Rolle. Das galt auch für den grausamen Völkermord, den deutsche Kolonialtruppen Anfang des 20. Jahrhunderts im heutigen Namibia an den Herero und Nama begingen. Erst im Jahr 2021 erklärte sich die deutsche Bundesregierung zu einer finanziellen Wiedergutmachung bereit. Damit ist der Aussöhnungsprozess aber keineswegs abgeschlossen.
So wie die Gewaltherrschaft der Deutschen in ihrer Kolonie Deutsch-Südwestafrika lange Zeit verdrängt wurde, so scheint sie bisher auch kein besonders attraktives Thema für die fiktionale Literatur zu sein. Zu den eher seltenen Romanen, die sich mit der düsteren deutschen Vergangenheit in Namibia beschäftigen, zählt Robert Habecks Buch «Die zweite Heimat der Störche», das er zusammen mit seiner Frau Andrea Paluch verfasst hat.
Neuauflage von 2004 mit neuem Titel
Allerdings ist der Mehrgenerationen-Roman schon 2004 erschienen, zu einer Zeit, als der Politiker seinen Lebensunterhalt in Gemeinschaft mit seiner Frau noch als Schriftsteller verdiente. Damals wurde das Buch unter dem Titel «Der Schrei der Hyänen» bei Piper veröffentlicht. Ganz sicher spekuliert Kiepenheuer& Witsch bei seiner jetzigen Neuauflage unter verändertem Titel auf einen nun zu erwartenden viel breiteren Leserkreis infolge der großen Bekanntheit des Ex-Wirtschaftsministers, der Namibia während seiner Amtszeit auch offiziell besuchte.
Das Buch erschien seinerzeit punktgenau hundert Jahre nach der Schlacht am Waterberg, die die grausame Vernichtung der Herero einläutete. Dieses historische Ereignis spielt auch im Roman eine Rolle. Die Handlung beginnt im Jahr 1899, als die junge Arabella nach Südwestafrika aufbricht, um als Kolonistenfrau ihr Glück zu suchen. Eine Zeit lang teilt sie das Leben an der Seite des Siedlers Frank, einem unkultivierten Grobian, der bei einem Herero-Aufstand getötet wird. Arabella wird verschleppt und schwanger von einem Hereroführer. Als sie wieder freikommt, geht sie eine Beziehung mit dem jungen deutschen Oberstleutnant Paul von Kavea ein, der in sie verliebt ist, aber zunächst nichts von ihrer Schwangerschaft weiß.
Gegen alle Erwartungen wird Arabellas Tochter Nele mit weißer Haut geboren. Nele von Kavea bleibt ahnungslos über ihren biologischen Vater. Sehr viel später begegnen wir ihr wieder als toughe Hamburger Senatorin mit strengen Grundsätzen und Überzeugungen. Als ihre Tochter Kriemhild ein Kind gebärt, das äußerlich so gar nicht Neles Vorstellungen von einem weißen Enkelkind erfüllt, schreitet sie zur Tat.
Wechsel zwischen den Zeitebenen und Generationen
Der Roman, der fast ein ganzes Jahrhundert umspannt, wird nicht chronologisch erzählt, sondern wechselt immer wieder zwischen den Zeitebenen und Generationen. Das verkompliziert die eh schon vielschichtige Handlung. Im Mittelpunkt stehen vier Frauengenerationen, symbolisiert durch Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und Tochter, die ein Gespinst an Lügen, Geheimnissen und Schuld miteinander verbindet. Über allem aber steht die Frage: Wie wichtig ist Familie und Abstammung? Kann es hier jemals Klarheit und Eindeutigkeit geben und ist das überhaupt erstrebenswert?
Sehr gut recherchiert ist der historische und geografische Hintergrund. Die herbe, lebensfeindliche Wüstenlandschaft entspricht der Kargheit und Härte des Siedler- und Soldatenlebens. Es gibt naturalistische, ja geradezu grausame Szenen. Erfreulicherweise vermeiden die Autoren jegliche grobe Schwarz-Weiß-Zeichnung. Nicht nur bei den Kolonialherren, auch bei den Herero werden verstörende und abstoßende Verhaltensweisen geschildert. Das ändert allerdings insgesamt nichts an der Brutalität und Ungerechtigkeit der deutschen Kolonialherrschaft in Afrika, in die man mit diesem Roman einen guten und recht authentischen Einblick bekommt.