Bettina Junkersdorf war Musikerin. Dann brachte ein Freund sie auf eine Idee. Nur mit einer Nähmaschine ausgestattet, beginnt sie, Accessoires aus alten Kletterseilen zu nähen – und gründet ein Start-Up
Courage: Wie kamst du auf die Idee, Kletterseile zu recyceln?
Bettina Junkersdorf: 2015 habe ich mit dem Klettern angefangen. Ein Freund gab mir ein altes Seil und sagte: Du bastelst doch so gern, mach was daraus! Dann habe ich mich an die Nähmaschine in meiner Wohnung in Rosenheim gesetzt. Anfangs habe ich einfache Dinge daraus genäht, Gürtel und Schlüsselanhänger. Alle fanden das cool. Ich habe nicht lange überlegt, ein Jahr später die Firma Newseed gegründet und einen Onlineshop eröffnet.
Welche Produkte hast du heute im Programm?
Wir haben Accessoires wie Gürtel und Geldbeutel, dann Taschen, Rucksäcke und Brotzeittüten. Im Bereich „Home and Living“ bieten wir Untersetzer, Teppiche und Brotkörbchen an. Wir arbeiten auch mit Doghammer aus Rosenheim zusammen, die stellen lokal Schuhe und Sandalen her und verwenden unsere aufbereiteten Seile. Unsere Produkte sind immer recht schnell ausverkauft, weil wir nur kleine Stückzahlen herstellen. Viele sind auch Unikate.
Und wie kommst du an die alten Seile?
Ich habe mir immer ein Netzwerk aufgebaut und Sammeltonnen in Kletterhallen aufgestellt. Das läuft sehr gut. Mittlerweile sammeln wir in 30 Hallen in Deutschland. Die Tonne in der Kletterhalle in Thalkirchen in München, eine der größten der Welt, ist alle zwei, drei Wochen voll. Da passen 40 bis 50 Kilo rein. Anfangs dachte ich: Wer spendet schon an eine Firma, die dadurch Geld verdient? Aber die Klettergemeinde sieht den Nachhaltigkeitsgedanken dahinter. 2022 haben wir vier Tonnen Kletterseile gesammelt, das sind in etwa 900 Seile.
Wolltest du schon früher im Bereich Nachhaltigkeit arbeiten – oder war das eher Zufall?
Ich wollte definitiv etwas machen, was die Welt verbessert. Zuvor war ich Musikerin und habe mit meinem Ex-Partner Musik produziert. Wir sind auch auf Tour gegangen. In der Zeit habe ich Gitarre studiert und einen Masterabschluss gemacht. Aber das war nicht das, was mich langfristig erfüllte. Mit Newseed kann ich meine Kreativität ausleben und gleichzeitig Gutes tun. Wir recyceln nicht nur Kletterseile, sondern zum Beispiel auch Reststoffe von Weishäupl in Rosenheim. Die stellen Sonnenschirme und Outdoormöbel her. Das passt sehr gut, die Stoffe haben schöne Farben und sind robust.
Wo lässt du deine Produkte produzieren?
Am Anfang habe ich alles aus meiner Wohnung und meinem Keller heraus gemacht. Irgendwann kamen immer mehr Bestellungen rein. Ich musste die Produktion auslagern. In meinem Keller standen da schon ganze Paletten voll mit Kletterseilen. Worauf ich richtig stolz bin: Ich habe eine Behindertenwerkstatt in Cottbus gefunden, die seit 2018 alle Seile wäscht, mangelt und zusammennäht. 15 Mitarbeiter produzieren dort für Newseed. Speziell während Corona waren sie sehr dankbar, weil sie ohne mich kaum Aufträge gehabt hätten. Vor zwei Jahren hatten sie eine tolle Überraschung für mich. Sie haben einfach einen Liegestuhl entworfen und hergestellt, ohne dass ich davon wusste. Der ist nun Teil unseres Sortiments.
Wie hast du dein Start-up finanziert?
Ganz allein! Am Anfang brauchte ich nur meine Nähmaschine. Das Geld, das dann reinkam, habe ich zurückgelegt. Meinen Lebensunterhalt musste ich mit Gitarrenunterricht und Gelegenheitsjobs bestreiten. Viel übrig geblieben ist nicht. Ich habe mich aber bewusst dafür entschieden, mein Unternehmen langsam aufzubauen. Bisher hat das gut funktioniert.
Wie läuft dein Geschäft jetzt?
Mittlerweile wirft Newseed etwas ab, mein Umsatz liegt im niedrigen sechsstelligen Bereich. Dafür habe ich in den ersten drei, vier Jahren aber auch wie ein Workaholic gearbeitet, von früh bis spät, hatte kaum Freizeit. Das hat lange richtig Spaß gemacht. Ich musste aber lernen, auch Arbeit abzugeben. Bis auf das Marketing habe ich jetzt alles ausgelagert. Auch die Website und die Social-Media-Kanäle betreue ich noch selbst. Den Online-Shop habe ich erst vergangenen Herbst auf ein anderes System umgestellt. Aber ich arbeite weniger, gönne mir auch mal, in den Urlaub zu fahren. Ohnehin geht es mir nicht ums Geld. Ich will vor allem etwas Sinnvolles machen.
Gibt es etwas, was du anderen Gründerinnen mit auf den Weg geben kannst?
Ich bin eher kreativ veranlagt. BWL und die ganze Strukturierung des Geschäfts liegen mir nicht so gut. Unterstützung bekomme ich zwar von einer Buchhalterin und Steuerberatung, aber es ist schon gut, wenn man von allen Geschäftsbereichen Ahnung hat. Am Anfang fühlte ich mich da oft überfordert, aber mittlerweile bin ich entspannter. Am Ende findet man doch für alles eine Lösung. Das ist auch mein Tipp an Gründerinnen. Stößt man auf Probleme, sollte man erst mal tief durchatmen und alles ruhig angucken. Panik hilft selten. Abstriche sollte man auch mal beim Thema Perfektionismus machen. Solange man seinen Grundsätzen treu bleibt, muss nicht alles perfekt laufen.
Welche besondere Herausforderung musstest du mit Newseed leisten?
Was mich lange beschäftigt hat, ist das Recycling des Innenmaterials der Kletterseile. Das lag mir schwer im Magen, denn wir verwenden in der Produktion nur den Mantel. Ein großer Teil der Seile – das ganze Innenleben – bleibt übrig. Aber ich sage ja, dass ich Seile recycle. Also habe ich bei verschiedenen Recyclingfirmen nachgefragt, aber sie alle benötigen ein sehr großes Volumen, damit es sich für sie lohnt. Sie mahlen das Material und führen es dann in den Recyclingkreislauf ein. Da müssen schon 13 Paletten zusammenkommen, damit die Firmen das machen. Seither sammelt meine Werkstatt in Brandenburg das Material und lagert es in großem Stil ein. Platz gibt es da genug. Das beruhigt mich sehr. Mir ist es wichtig, dass mein Konzept aufgeht und ich hinter meiner Arbeit stehen kann. Ein paar Dinge wie zum Beispiel manche Metallwaren muss ich aber leider aus Fernost bestellen. Die produziert hier niemand für einen erschwinglichen Preis.
Was planst du für die nächsten zwei Jahre Newseed?
Das Geschäft läuft gut, obwohl ich auch bei Newseed merke, dass die wirtschaftliche Großwetterlage gerade schwierig ist. Das Onlinegeschäft ist in diesem Jahr noch nicht gut gestartet. Aber erstmal mache ich so weiter. Ich bin froh, dass ich durch meine Großkunden eine stabile Basis habe und meine Strategie nicht nur auf Wachstum ausgelegt ist. In einem Jahr denke ich darüber nach, ob und wie ich die Produktion ausweite. Meine jetzige Werkstatt will ich aber unbedingt behalten. Vielleicht eröffne ich zusätzlich etwas Eigenes. Aktuell wäre mir die persönliche Belastung aber zu viel. Ich habe auch Verantwortung für alle, die für uns arbeiten, und bin es ihnen schuldig, verantwortungsbewusst mit dem Geschäft umzugehen. Außerdem wollen wir dieses Jahr mit dem Recycling von Klettergurten beginnen und daraus Rucksäcke produzieren. Aktuell tüfteln wir an einem Prototyp. Da kann ich wieder richtig kreativ sein. (ag)