Dauernd im Stress, zig Aufgaben gleichzeitig und nachts noch im Büro: Viele Menschen sind süchtig nach Arbeit. Das hat oft schlimme Folgen – gesundheitlich und sozial. Psychotherapeutin Eva Elisa Schneider erklärt, wie wir Arbeitssucht erkennen und was wir dagegen tun können.
Courage: Eine von der Hans-Böckler-Stiftung beauftragte Studie kam kürzlich zu dem Ergebnis, dass rund zehn Prozent der deutschen Erwerbstätigen arbeitssüchtig sind. Was heißt das eigentlich?
Eva Elisa Schneider: Ganz kurz zusammengefasst: Arbeit bestimmt ihr ganzes Leben.
Ich kenne viele Menschen, die viel arbeiten. Ist das tatsächlich ein Problem?
Natürlich nicht zwangsläufig. Die meisten von uns kennen Phasen im Leben, in denen sie viel arbeiten oder gearbeitet haben. Dagegen ist auch überhaupt nichts zu sagen. Jemand schreibt vielleicht neben der Arbeit an seiner Promotion, hat einen neuen herausfordernden Job angenommen oder baut ein eigenes Business auf. Oder er hat gerade viel Spaß an dem, was er macht.
Wo beginnt dann die Sucht?
Arbeitssucht gehört zu den sogenannten Verhaltenssüchten, wie auch Sportsucht oder Kaufsucht. Wer arbeitssüchtig ist, arbeitet also nicht nur mehr als andere, sondern verliert völlig das Gefühl dafür, wie viel er arbeitet. Wissenschaftlich formuliert heißt das: Er oder sie arbeitet zwanghaft und exzessiv, also über jedes Maß hinaus. Und das, obwohl die Betroffenen bereits negative Folgen spüren. Beispielsweise, dass es ihnen gesundheitlich nicht gut geht oder die Beziehung massiv leidet, weil es keine Zeit mehr für gemeinsame Aktivitäten gibt.
Und was bedeutet hier „zwanghaft“?
Ich nenne als Beispiel gern den Druck, auch in der Freizeit ständig die beruflichen E-Mails lesen zu wollen. Arbeitssüchtige können nicht aufhören, nicht abschalten. Sie denken ständig an die Arbeit und haben ein schlechtes Gewissen, wenn sie es nicht tun. Nach dem Motto: „Ich müsste jetzt eigentlich …“
Gibt es Branchen, in denen es besonders oft Arbeitssüchtige gibt?
Nein, man spricht in diesem Zusammenhang zwar oft von der Managerkrankheit, aber Studien zeigen, dass es sich durch alle Branchen und Berufe zieht. Allerdings ist es wohl so, dass Frauen und Führungskräfte häufiger betroffen sind.
Woran erkennt man, ob beispielsweise eine Kollegin einfach mehr arbeitet, weil es ihr Spaß macht oder weil sie süchtig ist?
Das ist nicht einfach, denn die Übergänge sind oft fließend.
Man kann also nicht sagen, 60 oder 80 Stunden pro Woche oder sechs bis sieben Arbeitstage sind zu viel?
So klar nicht. Wann das Maß wirklich voll ist, ist sehr individuell. Dass es nicht gesund sein kann, jeden Tag zwölf Stunden durchzuarbeiten, versteht sich von selbst. Aber wenn jemand in seinen Zwölf-Stunden-Arbeitstag regelmäßig große Pausen einbaut, in denen er wirklich abschaltet, kann das ganz anders aussehen. Ein ganz wichtiger Aspekt ist, ob es Ausgleichsphasen gibt. Freie Wochenenden, regelmäßig Urlaub oder eben angemessene Pausen.
Ausgleich heißt Ruhe?
Ja, beispielsweise. Aber auch das kann für jeden Menschen anders sein. Meditieren ist für viele ein guter Ausgleich, bedeutet für andere Menschen aber Stress. Weil sie die Gedanken damit nicht ausschalten können. Für die kann vielleicht Sport oder Bewegung, also Aktivität, ein guter Ausgleich sein.
Welche Tipps haben Sie denn noch, woran Arbeitssucht zu erkennen ist?
Aufmerksam werden sollte man, wenn jemand ständig erreichbar ist, immer sofort antwortet, als Erster kommt, als Letzter geht. Ein anderes Anzeichen könnte sein, dass jemand viel Arbeit annimmt, aber sein Ziel am Ende nicht erreicht.
Und wenn ich selbst betroffen bin?
Genau hinschauen und hinhören. Bezeichnen andere einen als Workaholic? Beklagen sich der Partner oder die Kinder regelmäßig über zu wenig gemeinsame Zeit? Gibt es noch andere Dinge außer arbeiten? Nimmt man an sozialen Aktivitäten teil? Und wenn man sich vornimmt, an einem Wochenende nicht zu arbeiten, gelingt das? Kontrollverlust ist ein ganz typisches Anzeichen für Suchtverhalten. Ebenso soziale Isolation und natürlich gesundheitliche Probleme.
Also Burn-out beispielsweise?
Das ist eine der bekanntesten Folgen. Aber es gibt noch viele andere: Müdigkeit, Niedergeschlagenheit, körperliche Erschöpfung, Schlafprobleme. Auch Angststörungen oder Medikamentenabhängigkeit können Folgen von Arbeitssucht sein. Nicht selten treten sogar mehrere Beschwerden in Kombination auf.
Kann es nicht auch sein, dass Überforderung zu diesen Problemen führt?
Ja, in solchen Fällen können die Warnsignale ähnlich sein. Den Unterschied merkt man vielleicht daran, ob es sich um eine punktuelle Geschichte handelt. Oder ob sich die Sucht nach Arbeit wie ein roter Faden durch das Leben zieht.
Wenn es so viele negative Begleiterscheinungen gibt, müsste doch eigentlich auch der Arbeitgeber eine Interesse daran haben, Arbeitssucht zu verhindern.
Sollte er – ja. Aber leider bleibt Arbeitssucht in Unternehmen oft unerkannt. Das liegt auch daran, dass Mitarbeiter, die viel machen, zunächst mal dankend angenommen werden im Unternehmen. Und natürlich ist das Suchtverhalten auch für Vorgesetzte nicht immer einfach zu erkennen. Das ist ein schmaler Grat.
Gäbe es denn vorbeugende Maßnahmen?
Natürlich. Verbindliche Guidelines zu Arbeitszeiten, Workload, Pausen und Überstunden etwa. Darüber hinaus spielt die Unternehmenskultur eine Rolle. Wird viel Arbeitseinsatz gelobt und das Einhalten von Arbeitszeiten vielleicht sogar missbilligt? Letztlich ist es in vielen Firmen wie in der Gesellschaft allgemein: Wer mehr leistet, bekommt mehr Anerkennung. Da müssen wir alle sensibler werden.
Angenommen, die Arbeitssucht wird erkannt: Was hilft dann? Aufhören zu arbeiten ist ja meist keine Option.
Betroffene können lernen, Maß zu halten.
Was heißt das konkret?
Die meisten Menschen merken irgendwo im Hinterkopf selbst, dass etwas nicht stimmt. Ich empfehle, dann in zwei Schritten vorzugehen. Der erste Schritt ist eine Bestandsaufnahme: Wie viel arbeite ich wirklich, und tut mir das gut? Wie viel Zeit widme ich anderen Dingen? Fühle ich mich zufrieden und ausgeglichen damit? Wenn mir bewusst ist, dass die Arbeit zu viel Raum einnimmt, dann kann ich beginnen, mir Grenzen zu setzen, zeitliche wie digitale. Also etwa abends das Diensthandy auslassen oder am Wochenende keine dienstlichen E-Mails mehr lesen.
Klingt logisch, aber Sie sagen ja selbst: Sucht zeichnet sich dadurch aus, dass ich diese Kontrolle nicht habe.
Gut ist, eine Bezugsperson zu haben, der man vertraut. Natürlich ist das sehr schwer, denn je länger der Entzug dauert, umso größer wird das Verlangen. Wie bei anderen Suchtformen muss der Betroffene lernen, seinem Bedürfnis, also zu arbeiten, nicht nachzugeben. In manchen Fällen hilft es, den Rechner wegzusperren oder die Tür zum Arbeitszimmer geschlossen zu halten.
Und wenn nicht?
Glücklicherweise gibt es mittlerweile Ambulanzen und Kliniken, die sich auf Arbeitssucht spezialisiert haben. Wichtig ist in jedem Fall, sich Unterstützung zu suchen. Das kann der Hausarzt sein oder ein Psychotherapeut. Es ist immer lohnend, sich dem Thema zu stellen. Wer maßvoll arbeitet, hat in der Regel nicht nur mehr Spaß, sondern auch mehr Erfolg.