Warum Deutschland es einem leicht macht, mit einem Verbrechen davonzukommen
Es ist still in den Oldenburger Weser-Ems-Hallen am 06. Juni 2019, als das Urteil fällt. Normalerweise finden hier Messen statt. Oder Musicalaufführungen, Sportveranstaltungen, Theater, aber keine Mordprozesse. Heute schon. Der Saal ist voll, zugelassen sind 80 Medienvertreter, für den Rest der Öffentlichkeit stehen 118 Plätze zur Verfügung. Sie sind restlos besetzt.
Auf der Anklagebank sitzt regungslos ein großer, schwerer Mann Anfang 40 mit Othämatom, umgangssprachlich besser bekannt als Blumenkohlohr. Leger gekleidet, in blauem Sweatshirt und Jeans. Die dicke silberne Halskette reflektiert das Blitzlicht der Fotografen. Als analytisch wird er von den anwesenden Pressevertretern beschrieben, abwartend. Nicht, als sei er, Krankenpfleger Niels Högel, Verantwortlicher für die größte Mordserie in der bundesdeutschen Kriminalgeschichte.
Nach 24 Verhandlungstagen durch die Schwurgerichtskammer des Landgerichts Oldenburg wird er des Mordes durch Intoxikation seiner Patienten in 85 Fällen schuldig gesprochen. Ein systematisches Morden, über Jahre hinweg begangen. Durch die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld ist eine vorzeitige Entlassung für ihn ausgeschlossen. Das Urteil nimmt er regungslos zur Kenntnis.
Wie kann es im Rechtsstaat Deutschland dazu kommen?
Follow the Money. Tote sind teuer. Sie haben keine Lobby.
In der Studie „Fehler bei der Ausstellung der Todesbescheinigung“ der Universität Rostock schlug der federführende Professor Dr. Fred Zack vor acht Jahren bereits Alarm. Ausgewertet wurden 10.000 Todesbescheinigungen aus Mecklenburg-Vorpommern im Zeitraum von August 2012 bis Mai 2015, nur 223 davon wurden als fehlerfrei eingestuft. Das sind weniger als drei Prozent. Rund ein Drittel der ausgestellten Todesbescheinigungen wiesen sogar schwerwiegende Fehler auf. Das schließt unter anderem Fehler bei der Klassifizierung der Todesart, fehlende Angaben für eine Erreichbarkeit des Leichenschauarztes, eine Nichtlesbarkeit wesentlicher Informationen des Scheins durch eine schlechte Handschrift sowie Todesartfehler mit ein. Einfach gesagt: vieles davon sind Fehler der Achtlosigkeit, Fehler der Ahnungslosigkeit.
Publikmachungen wie diese sind nur die Spitze eines tief unter die Oberfläche der deutschen Apathie reichenden Eisbergs der Probleme, Unterlassungen und Nachlässigkeiten in Bezug auf das doch als Rechtsstaat geltende Deutschland. Das fällt ihm auf die Füße. Und das nicht erst seit gestern.
Wer nun argumentieren möchte, dass diese Zahlen weder flächendeckend noch aktuell sind, wird enttäuscht. Professor Dr. Zack geht nicht davon aus, dass sich in den letzten zehn Jahren irgendetwas grundsätzlich verändert hat, um zur Verbesserung der Lage beizutragen. Ein Laie würde hier klaffende Löcher in der rechtssicheren Weste Deutschlands feststellen. Im Gespräch geht Zack noch einen Schritt weiter: „Beim Thema Leichenschau kann man in Deutschland keinesfalls von einer gegebenen Rechtssicherheit sprechen, und das interessiert dazu auch überhaupt keinen. Am Ende scheitert alles am Geld.“
Das Ganze monokausal zu erklären, ist im Bürokratie-Deutschland, in unserer langfristig angelegten Kultur des Verantwortung-und-Zuständigkeiten-von-sich-weisens schlichtweg nicht möglich. Es gibt eine ganze Reihe hakender Rädchen in der Kette, welche den großen Apparat des deutschen Rechtsstaates erlahmen lassen. Die Studie von Professor Doktor Zack ist dafür ein guter Ausgangspunkt.
„Unser Staat gibt sich in 98% der Sterbefälle mit der Leichenschau zufrieden, wohl wissend, dass etwa 50% der auf den Todesbescheinigungen angegebenen Todesursachen fehlerhaft sind.“
Zunächst einmal kann sich jeder vorstellen, dass eine Leichenschau nicht gerade angenehm ist. Je nach Auffindungssituation liegt der Verstorbene vielleicht schon ein paar Tage, ein paar Wochen da. Schön aussehen und gut riechen tut er dann gewiss nicht mehr. In jedem Fall ist das stressig. Gerade weil die meisten Ärzte längst nicht so viel Erfahrung damit haben, einen Toten zu untersuchen wie einen Lebenden. Man denke nur mal an einen Augenarzt oder Gynäkologen, der in seinem Bereitschaftsdienst zufällig am Tatort als leichenschauender Arzt erscheint und nun richtig entscheiden muss. Und mal eben einen 200-Medizinstudenten-starken Hörsaal zum Tatort mitzubringen, ist rein logistisch nicht wirklich einfach. Dass dies ein erstes Risiko für Fehler birgt, ist klar. Der Stein gerät ins Rollen.
Es muss aber größer gedacht werden. Hier kommt die Aufgabe der Presse ins Spiel. Warum ist es wichtig, darüber zu berichten? Ein Mitarbeiter der LMU München, der nicht namentlich genannt werden möchte, sieht als zentralen Grund für die katastrophale Lage der deutschen rechtsmedizinischen Sicherheit den Föderalismus. Wir sind also wieder bei Politik. Ein langfristiges Planen ist schwierig, man fährt sozusagen auf Sicht. Und das, obwohl er und ein ehemaliger bayerischer Staatsanwalt im Interview beide einräumen, dass München, wie in vielen anderen Dingen auch, ein Sonderstatus zukommt. Dort läuft es noch verhältnismäßig gut. Nicht nur im Fußball, auch bei den Leichen.
An einen Flickenteppich erinnern die unterschiedlichen gesetzlichen, materiellen und personellen Gegebenheiten in den einzelnen Bundesländern, das reicht bis hin zu den einzelnen Totenscheinen. Gerade an den Ländergrenzen kann man sich nur schwer vorstellen, was da los ist. „Weil ein Arzt in Problemfällen, die nicht selten vorkommen, es nicht alleine hinbekommt und die Politik ihm nicht hilft, ist er sauer auf die Politik“, fasst Zack im Gespräch zusammen. Doch macht die Politik denn wirklich gar nichts?
Für etwa 40 bis 50 Ärzte hält Fred Zack einmal im Jahr eine Fortbildung zum Thema Leichenschau, organisiert von der Ärztekammer. Diese Zahl sieht gegenüber den etwa 8500 praktizierenden und möglicherweise leichenschauenden Ärzten in Mecklenburg-Vorpommern ziemlich gering aus. Das ist zwar nicht gar nichts, aber es tastet sich zaghaft an gar nichts heran.
In Bremen hingegen gibt es seit 2017 – auch als Reaktion auf den Fall Högel – übrigens als einziges Bundesland in Deutschland – die sogenannte qualifizierte Leichenschau. Nach der Feststellung des Todes durch den ersten leichenschauenden Arzt wird jeder Sterbefall durch einen Rechtsmediziner einer zweiten Leichenschau unterzogen. Der professionelle Leichenschauer ist also gar nicht mehr am Tatort. Die Tablettenblister im Mülleimer, die Art wie der Föhn für einen angeblichen Selbstmord in der Badewanne platziert wurde, oder wie sich der Erhängte am Dachbodenbalken auf diese Weise selbst festmachen konnte – all das fehlt ihm für seine Beurteilung. In einer sterilen, gefliesten Leichenhalle oder einem Leichenschauhaus sieht er sich den sterblichen Resten nun gegenüber und muss herausfinden, was mit ihnen geschehen ist. Wenn Maßnahmen ergriffen werden, um die Rechtssicherheit beim Leichenfund zu erhöhen, dann sind es also die Falschen?
„Es ist nicht immer möglich, am Tatort zu sein, auch wenn man das eigentlich sein müsste.“
Dabei ist der erste Schritt, nämlich das Ausfüllen des Totenscheines, der Wichtigste, um den Prozess ins Laufen zu bringen. Auf dessen Basis entscheidet die Polizei darüber, ob nach der äußeren Leichenschau auch eine innere, also die Obduktion, beantragt und damit der Staatsanwalt eingeschaltet wird, oder nicht. Diese Entscheidung, erklärt der ehemalige bayerische Staatsanwalt im Interview, trifft man basierend auf dem Legalitätsgrundsatz. Dieser verpflichtet, selbstverständlich nach bestem Wissen und Gewissen, und sofern „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen“, einzuschreiten. Die staatlichen Ermittlungsbehörden müssen also von Amts wegen alle Straftaten verfolgen, von denen sie Kenntnis erlangen. Auch ohne vorliegende Anzeige.
Im Idealfall wird die Obduktion, zumindest in München, ja schließlich auch in Anwesenheit des Staatsanwalts durchgeführt. Auf die Nachfrage hin, ob er, der nicht namentlich zitiert werden wollte, das Gefühl habe, immer nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden zu können, räumt er ein: Logistisch gesehen ist es weitaus nicht immer möglich, am Tatort zu sein, auch wenn man das eigentlich müsste.
Auch hier stellt sich die Frage, wie eine Entscheidung nach bestem Wissen möglich sein soll, wenn man als Staatsanwalt weder eine Leiche, noch einen Fundort zu Gesicht bekommt. Entgehen einem nicht wichtige Spuren? Wie riecht es am Tatort? Ist Erbrochenes aufzufinden? Was befindet sich in den Mülleimern? Wie sieht es aus? Wie verhalten sich die Angehörigen? Die Eindrücke der Auffindesituation sind essentiell, um eine solche Entscheidung zu treffen. Ein möglicher Tatort ist als Gesamtkonzept zu verstehen, eine theoretische Sättigung als Ziel der Ermittlungsarbeit, egal wie oft man eine ähnliche Situation vermeintlich schon gesehen hat. Egal, wie sicher man sich ist. Oder zu sein scheint. Auch Zack weist im Interview darauf hin: „Es gibt Fälle, die sind ähnlich, sicher. Und dann gibt es aber auch Fälle, die hat man in 30 Berufsjahren noch nicht gesehen.“ Einen großen Stolperstein an dieser heiklen Schnittstelle zwischen Medizin und Recht stellt vor allem die von außen so schwer zu erkennende Todesursache durch eine Vergiftung dar. Sie ist nach dem Tod nur durch eine Obduktion und eine anschließende toxikologische Untersuchung nachweisbar. Zack vermutet, die Dunkelziffer sei hier mit Abstand am höchsten. Ohne Leichenöffnung und Zusatzuntersuchungen geht hier gar nichts. Wir sehen wieder, warum Niels Högel so lange unentdeckt morden konnte.
Und wenn die Leiche am Ende gar nicht geöffnet wird?
Es gibt vieles, was im Vergleich zur normalen Leichenschau bei einer Obduktion zum Vorschein kommen kann. Sie dient unter anderem der Feststellung der Todesursache, sie qualifiziert die Todesart, vergleicht klinische und postmortale Befunde und hat natürlich auch eine Außenwirkung. Im Idealfall auf die Korrektheit der Todesursachenstatistiken und die Ausbildung von Medizinstudenten und Ärzten, aber besonders für die Aufklärung von Verbrechen!
Es gibt nicht vieles, was die DDR besser gemacht hat als das vereinigte Deutschland: Jeans, Coca Cola, Autos und Meinungsfreiheit zählen sicherlich nicht dazu. Eine höhere Obduktionsrate schon. Als Faustregel gilt grundsätzlich: Eine valide Todesursachenstatistik kann durch Obduktionsquoten von 25 bis 35 % aller Todesfälle gestützt werden, die werden jedoch seit Jahrzehnten schon nicht mehr erreicht. Die gerichtliche Medizin und die Pathologie im ehemaligen Ostdeutschland hingegen kam da schon ziemlich nahe ran. Trotz alledem hat man aus rechtlichen Gründen die Methode der alten Bundesländer nach der Wende übernommen. Das Ergebnis davon findet sich eher auf der vernichtenden Seite. Je nach Studie kann man diese Zahlen in Deutschland mal eben fünfteln. Klar, ein Kontrollstaat, wie es die ehemalige DDR war, brauchte natürlich auch Kontrolle über seine Toten. Aber war das wirklich so verkehrt?
Auch unsere Nachbarländer Österreich und Tschechien machen uns da im Vergleich vor, wie es besser geht. Weit entfernt sind wir von Quoten wie in England und Wales, welche im Gegensatz zu uns einen sogenannten Coroner einsetzen. Bei diesem handelt es sich meistens um einen Verwaltungsbeamten, also einen unabhängigen (gewählten!) Justizbeamten, der sich einer ungeklärten Todesursache annimmt. Nicht immer ist dafür überhaupt eine rechtsmedizinische Ausbildung voraussetzend. Je nach Ermittlungen wird ein gerichtsmedizinischer oder kriminaltechnischer Sachverständiger hinzugezogen. Wenn man Professor Dr. Zack fragt, vielleicht sogar das bessere System.
Doch warum sind unsere Zahlen so rückläufig? „Am Ende scheitert alles am Geld.“ Weil natürlich jede vorsichtshalber obduzierte Leiche, die kein Tötungsdelikt ans Licht bringt, Geld kostet. Bei unserer Bewährungsprobe „Vergiftung“ bedeutet das einen extremen Aufwand. Falls sich der Täter ein bisschen geschickter angestellt hat und uns eine erste Leichenschau nicht gleich eine Entdeckung von Injektionsstellen, grauen Bändern in den Fingernägeln, bunten Totenflecken (in grün, braun oder hellrot) oder Schaum vor dem Mund zu Tage fördert, wird es schon herausfordernd. Am rechtsmedizinischen Institut kann nach einer Obduktion bei Verdacht auf Tod durch Intoxikation manchmal nach vier- bis sechstausend Stoffen gefahndet werden. Ob der Stoff durch Selbst- oder Fremdbeibringung in den Körper gelangt ist, wäre dann eine ganz andere Frage, die es anschließend zu klären gilt.
Also lieber in Kauf nehmen, dass einem mal die ein oder andere Leiche durchrutscht? Eine unvermeidbare Begleiterscheinung sozusagen? Oder vielleicht ist das einfach der „Ballast der Republik“, von dem alle immer sprechen?
Das Pech, das an uns klebt
Nein, so einfach kann und sollte man es sich nicht machen. Eine Mordserie, wie sie Niels Högel verübt hat, ist zweifellos jederzeit wieder möglich. Zack ist sich dessen jedenfalls sicher. Sein letztes Buch „Tödlicher Norden“ endet mit den Worten: „Ob es den ,perfekten Mord’ gibt, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. Jedoch sollten wir nicht verkennen, dass in Deutschland keinesfalls alles getan wird, um vorsätzliche Tötungsdelikte aufzudecken.“ Eine desolate Bilanz. Gegen die etwas unternommen werden muss. Wer ein Problem ernsthaft anpacken will, macht das am besten an der Wurzel. Es muss in erster Instanz bei der Bildung angesetzt werden. Woher soll ein junger Arzt plötzlich eine Leichenschau durchführen können? Für die Lehre des Straßenverkehrs hat ein Fahrschüler mehr Zeit als ein Medizinstudent für den korrekten Umgang mit einer Leiche und die Ausstellung eines Totenscheins (womit er, falls er sich im Laufe seiner Karriere zu einem Wechsel des Bundeslandes entschließt, gleich nochmal von vorne anfangen darf). Einen Totenschein gibt es in der Bundesrepublik Deutschland gleich in 16 unterschiedlichen Versionen, für jedes Bundesland zudem ein eigenes Leichenschaugesetz. Immerhin zehnmal sollte er nur mitlaufen bei einer Leichenschau (im Fachjargon hospitieren), bevor er selbst Hand anlegen darf, so sieht das Zack. Die Mindestanzahl an Fahrstunden beträgt übrigens zwölf. Erst dann wird man, und nur wenn man ein wirklich guter Fahrschüler ist, zur Prüfung zugelassen.
„Deutschland in den Augen der Welt“ heißt eine nun schon dreimal durchgeführte Studie der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. In den Augen des Auslands gelten wir als Staat der Gerechtigkeit, halten Rechtsstaatlichkeit hoch und haben stabile Institutionen. Die Attribute „reif“ und „vorbildlich“ werden ersetzt durch „umständlich“, „verkopft“ und „letztendlich ergebnislos”, welche das Fazit dieser Recherche bilden. Zumindest beim Thema der ärztlichen Leichenschau. Die viel zu großen Schuhe, die uns international angezogen werden, passen offenbar überhaupt nicht. Sie müssen endlich zugeschnürt werden in Sachen Bildung, Förderung und vor allem politischem Willen zur Vereinheitlichung. Erst dann und nur dann kann man Schritte in ihnen gehen.