ChatGPT und Co. werden Gesellschaft und Arbeitswelt massiv verändern. Wird das Leben durch künstliche Intelligenz leichter? Oder überwiegen die Risiken? Courage hat Zukunftsforscher Lars Thomsen, Gründer der future matters AG, nach seiner Einschätzung gefragt.
Courage Lounge: Sie erwarten eine Dekade der Disruption durch den Einsatz der künstlichen Intelligenz (KI). Bereitet Ihnen das keine Sorgen?
Lars Thomsen: Die KI entwickelt sich schneller als alle Experten erwartet haben – und es handelt sich um eine Technologie, welche enorm viele Industrien und Lebensbereiche in kürzester Zeit global verändern wird. Dabei gibt es sehr viele Chancen, aber natürlich gibt es auch Risiken. In unserem Worst-Case-Szenario könnten bis zum Ende der Dekade 20 bis 30 Prozent der derzeitigen Arbeitsplätze von KI übernommen werden. Das könnte bei vielen Menschen Zukunfts- und sogar Existenzängste oder Depressionen auslösen. Der Arbeitsplatzverlust betrifft anders als in der Vergangenheit (wie etwa damals bei den Weberaufständen) nicht nur eine Zunft, sondern betroffen sind auch top-ausgebildete Arbeitskräfte quer durch alle Branchen, beispielsweise Rechtsanwälte, Banker, Werbetexter, Journalisten – und auch Zukunftsforscher. Schon heute kann ChatGPT einen kompletten Vortrag zu einem Thema schreiben, inklusive Anekdoten, gutem Storytelling, Witzen etc . Auch Diagnosen in der Medizin oder Auslegung von Gesetzestexten können von der KI schon sehr bald schneller und präziser für die meisten Fälle übernommen werden. Noch vor Mitte dieses Jahrzehnts wird die KI zudem praktisch jedem Menschen als „persönlicher Assistent“ zur Verfügung stehen, um sehr viele zeitfressende Routinen und Aufgaben sehr professionell abgenommen zu bekommen. Dies geht von dem Bearbeiten von e-Mails, Recherchen, Steuererklärungen, Websiten- oder Präsentationserstellung bis zur Termin- und Reiseplanung etc. Das wir die Produktivität stark erhöhen – und uns im besten Fall sogar mehr Denk- und Freizeit geben.
Also unter dem Strich mehr Chancen als Risiken?
Tatsächlich hatte ich in den vergangenen Monaten eine sehr irritierende Zeit. Ich bin zum einen fasziniert von den Möglichkeiten, zum anderen bricht einiges, was ich bislang sicher zu wissen glaubte, unter den Füßen weg. Es ist die Erkenntnis, dass meine Intelligenz, mein Wissen und meine Erfahrungen in immer mehr Bereichen nicht mehr mit der KI konkurrieren kann. Ich diskutiere das auch sehr intensiv mit meinen Kollegen. Und gebe zu: Die massenpsychologischen Risiken bereiten mir ernsthafte Sorgen. Nehmen wir den schlimmsten Fall an und Millionen von Menschen liegen nachts wach im Bett und realisieren, dass ihr Beruf mit allen dafür vorhandenen Fähigkeiten von einer KI zu einem Tausendstel der Kosten in wenigen Sekunden erledigt werden kann. Ich weiß nicht, wie die Gesellschaft darauf reagieren wird. Die Gefahr besteht, dass das Menschen in eine Massen-Depression treibt. Oder aber in die Fänge von Populisten.
Gesellschaftliche Konsequenzen sind das eine. Das andere, dass die KI zu zerstörerischen Zwecken eingesetzt wird. Fürchten Sie dieses Risiko nicht?
Das gibt es bei vielen Technologie, die Menschen bislang erfunden haben. Auch die Axt ist ein Werkzeug, das beim Fällen eines Baumes sehr produktiv eingesetzt werden kann, aber man kann damit auch Menschen umbringen. Und jetzt haben wir eine galoppierende Technologie, die global ausgerollt wird und sehr schnell fast jedem Menschen zur Verfügung steht. Ich bin täglich hin- und hergerissen zwischen der Sorge und der derzeitigen Unvorstellbarkeit, was das alles auslösen kann. Auf der anderen Seite kommen wir als Menschen derzeit an unsere Belastungsgrenzen: Die Komplexität der Welt, die Menge an Informationen, Wissen und Kommunikation können wir mit unserer begrenzten Intelligenz nicht allein bewältigen. Die Komplexität der Welt, die wir selbst erschaffen haben, wird also ohne KI nicht mehr begreifbar. Bei vielen Entscheidungen, die wir in den Demokratien derzeit treffen müssen, ist das schon der Fall. Dabei wäre es gut, wenn die KI uns dabei helfen würde, bessere Entscheidungen zu treffen – ob persönlich oder als Gesellschaft. Nehmen wir das Beispiel Klimawandel und die leidigen Diskussionen um Wärmepumpen & Co. Viele Menschen sind überfordert und verstehen das nicht mehr. Sie resignieren und kaufen noch schnell eine Gasheizung, obwohl es nicht logisch ist. Gegebenenfalls kostet sie diese Falschentscheidung sehr viel Geld und das nur, weil ihnen eine neutrale und logische Entscheidungsunterstützung nicht zur Verfügung steht. KI ist also beides: Etwas, was wir produktiv nutzen können und sollten, und etwas, was unsere Gesellschaft in ihren Werten stark erschüttern wird!