Machen statt beten

Foto: Christoph Kronseder Marleen Maxeiner
Foto: Christoph Kronseder

Marleen Maxeiner ist Künstlerin. Doch sie musste sich erst befreien, bevor sie ihren Traumberuf ergreifen konnte – aus einer strengen Freikirche und einer „toxischen“ Ehe. Die Geschichte eines Mutanfalls.

von Carolin Johannsen

Das erste Bild ihrer Tochter hatte die Mutter eingerahmt. Blaue, rote und gelbe Acrylfarbe auf einem Blatt Papier. In einer Ecke ist ein Handabdruck zu erkennen. Die Kinderhand dazu gehört Marleen Maxeiner, damals drei Jahre alt. Heute lächelt sie, während sie auf dem Smartphone ein Foto von ihrem ersten Gemälde zeigt. Das Foto steht für sie, für ihre Karriere als Künstlerin. Aber es steht auch für den Weg dorthin, der sie einmal in die Hölle und zurück geführt hat. Denn bevor sie sich hauptberuflich ihrer Kunst gewidmet hat, war Maxeiner in einer strengen Freikirche und in einer „toxischen Ehe“, wie sie sagt. Sie tat nur, was andere von ihr wollten.

Das Leben gestalten wie eine Leinwand

Jetzt sitzt die 30-Jährige auf einem weißen Sofa in einem Atelier in der Kölner Südstadt. Durch die Fenster dringt Straßenlärm, drinnen läuft klassische Musik. An den Wänden hängen Bilder, 130 auf 160 Zentimeter, viele in Grüntönen. Maxeiner hat sie gemalt, jedes erzählt einen Teil ihrer Lebensgeschichte. „Man kann sein Leben wie eine Leinwand selbst gestalten“, sagt sie. Sie selbst hat ihr Leben mit 25 Jahren komplett umgekrempelt. Viel zu lange habe sie nichts gesagt, erzählt sie. Jetzt hat sie ihr Schweigen gebrochen. Ihr Schweigen über ihre Vergangenheit in einer christlich fundamentalistischen Freikirche, die sie heute als „sektenähnlich“ bezeichnet. 

Maxeiner streicht die rotblonden Haare aus dem Gesicht, ein Tattoo an ihrem linken Handgelenk fällt ins Auge. Es ist der Schriftzug „geliebt“, zart geschwungen, der Buchstabe „t“ hat die Form eines Kreuzes. „Ich habe Gott so sehr geliebt, dass ich mir das voller Überzeugung für immer unter die Haut habe stechen lassen“, erzählt die junge Frau und lacht, wird aber gleich wieder ernst. „Ich habe oft überlegt, es weglasern zu lassen. Aber es ist Teil meiner Vergangenheit und somit Teil von mir.“ 

Schon als Kind schimmert bei Maxeiner die Liebe zur Kunst durch. Sie malt viel, am liebsten abstrakte Formen und Farben. Sie wächst bei ihrer alleinerziehenden Mutter und ihren Großeltern auf und zieht oft um. „Dadurch hatte ich wenige Freunde“, erinnert sie sich. Am liebsten geht sie nach der Schule in den Wald und spielt dort allein. Wenn sie nicht draußen ist, malt sie. Aber in ihr ist eine Sehnsucht nach Gemeinschaft. Die findet sie in einer evangelischen Brudergemeinde, nur wenige Minuten Fußweg von ihrem damaligen Zuhause entfernt. Auf die Idee, einer Kirchengemeinde beizutreten, sei sie durch ihre Großmutter gekommen. Die sei sehr gläubig gewesen, gemeinsam hätten sie viel gebetet, sie habe ihr Geschichten aus der Bibel erzählt. Mit sechs Jahren hat sich auch in Marleen der Glaube gefestigt. „Ich hatte das Gefühl, endlich Teil von etwas zu sein.“ Doch um dazuzugehören, muss sie Regeln befolgen. Beim Sonntagsgebet trägt sie Kopftuch, spricht nie allein mit Männern. Einer der Sätze, den sie früh lernt: „Geht der Rock nicht übers Knie, siehst du die Himmelspforte nie.“ 

Immer mehr Zeit verbringt Marleen in der Gemeinde. Gut geht es ihr nicht. Als sie zwölf ist, entwickelt sie eine Essstörung. Sie hungert, denkt nur noch ans Nicht­essen. Sowohl der Glaube als auch die Kunst spielen keine Rolle mehr in ihrem Leben. Dann schicken ihre Eltern sie in eine psychosomatische Klinik. 

Kirche und Küche

Als sie entlassen wird, ist alles anders. Marleen hat in der Kunsttherapie wieder zu malen begonnen, die Essstörung im Griff und fühlt sich freier. Sie trinkt das erste Mal Alkohol, geht feiern, hat ihren ersten Kuss. Doch statt es zu genießen, erinnert sich die damals 16-Jährige an das, was sie als junges Mädchen in der Kirche gelernt hat: Intimität vor der Ehe ist tabu. Sie entwickelt ein so schlechtes Gewissen, dass sie in die Freikirche zurückkehrt. Später macht sie zwar ihren Schulabschluss und eine Schauspielausbildung, doch sonst ist sie nur in der Kirche – oder in der Küche. „Ich wollte eine gute Hausfrau und eine gute Christin sein, Kunst war da gar nicht in meinem Kopf“, erinnert sie sich. Mit 19 Jahren heiratet sie. „Ich habe den Mann nicht geliebt“, sagt Maxeiner. Doch sie glaubt, damit der Bibel zu folgen. „Es heißt in der Bibel nicht ‚mein Wille geschehe‘, sondern ‚Dein Wille geschehe‘“, zitiert sie. Damit ist Gottes Wille gemeint. 

Bis 2019 lebte Marleen ein Leben, das sie, wie sie heute weiß, nie leben wollte. Aber sie traut sich nicht zu gehen. Bis zum Mai 2019, als ihr Mann nicht nur verbal, sondern auch körperlich gewalttätig geworden sei, erzählt sie. Am selben Tag verlässt sie ihn und beschließt, ihr Leben zu ändern.

Trennung vom Glauben

Marleen hinterfragt alles und entscheidet sich für eine zweite Trennung – die von ihrem Glauben. „Das war die schlimmere“, sagt sie. In der WG in Köln, in der sie inzwischen lebt, lernt sie Menschen kennen, die andere Interessen als die Kirche haben. Und dort beginnt Marleen nach sieben Jahren Pause endlich wieder zu malen. 

Zunächst sind es kleinere Werke in ­Acryl, die in ihrem 15-Quadratmeter-Zimmer entstehen. „In meinem Leben war alles im Wanken, im Malen habe ich Halt gesucht“, erklärt sie. Das Material finanziert sie mit Nebenjobs. Sie arbeitet in einem Bekleidungsgeschäft oder babysittet. Oft gibt sie mehr Geld für Farben als für Essen aus. Das geht einige Monate so. Irgendwann habe ihr Zimmer so vollgestanden mit Kunstwerken, dass sie es kaum noch betreten konnte, sagt sie lachend. 

Was dann passierte, bezeichnet sie als „Mutanfall“. Sie entscheidet sich, Vollzeitkünstlerin zu werden, kündigt ihre ­Nebenjobs, mietet einen Platz in einem Atelier und lebt von ihren Ersparnissen. Einen richtigen Plan hat sie zu diesem Zeitpunkt nicht. Sie hatte weder Kunst studiert noch jemals ein Bild verkauft. Doch sie hat Glück. Ihr erstes Werk verkauft Marleen an eine Bekannte. 350 Euro für ein mosaikartiges Bild auf Papier. Dem ersten Erfolg folgen weitere, denn Marleen Maxeiner hat Instagram für sich entdeckt. Sie entscheidet sich, Fotos und Videos zu teilen, die sie und ihre Werke zeigen. Ohne genau zu wissen warum, hat sie Erfolg damit: Sie bekommt Likes, Follower und neue Käufer. Inzwischen verkauft sie ihre Bilder, die sie auf immer größere Leinwände malt, für 1300 bis 1800 Euro.

Heute, vier Jahre später, steht ­Maxeiner von dem weißen Sofa in ihrem Atelier auf und beugt sich über die Leinwand, an der sie gerade arbeitet. Feinen Goldstaub verteilt sie auf der Farbe, die noch nicht ganz trocken ist. Unter einem hellrosa Ton schimmern Weiß, Grau, Braun hervor. Ihre Gemälde bestehen oft aus vielen Schichten – „so wie mein Leben“, sagt sie. Und die Schauspielerei, ihr Ausbildungsberuf? Sie will nicht ausschließen, später auch damit wieder Geld zu verdienen. Doch aktuell ist die Malerei das Leben von Marleen Maxeiner. 

Wenn sie malt, dann gehe sie mit einem Thema an das Bild, erzählt sie. Und ihr Lieblingsthema ist: Neuanfang. „Das Malen hilft mir, mit der Vergangenheit Frieden zu schließen“, sagt sie. „Die größte Kunst ist für mich, sein Leben zu gestalten.“ Sie steckt den Pinsel wieder in das goldene Farbpigment. Die Farbe rieselt auf die Leinwand. Glitzerstaub auf Pastellrosa.

„Einfach Spaß haben“

Seit einiger Zeit gibt Marleen Maxeiner auch Kunst-Workshops. Zweimal im Monat kommen etwa zehn Personen, hauptsächlich Frauen, zu ihr ins Atelier zu einem ihrer „Heart-Workshops“. Drei Stunden lang malt sie mit ihnen. Ihre Botschaft: „Einfach Spaß haben, mehr auf die Intuition hören, weniger auf den Verstand.“ Sie richtet sich auf und stellt die Farbe weg. „Ich möchte Mut machen.“ Ihr eigenes Leben nennt sie als Beispiel. Sie kann heute von ihrer Kunst gut leben, hat Glauben und Freikirche hinter sich gelassen. Inzwischen hat sie sogar einen neuen Partner und einen großen Freundeskreis. Wie sie das geschafft hat? „Ich habe nicht mehr gebetet, sondern gemacht.“

Wenn sie an die Zukunft denkt, hat Max­einer einen genauen Plan. Sie möchte ein eigenes Atelier haben, am liebsten geteilt mit ihrem Freund, der Tätowierer ist. Auch die Workshops möchte sie ausbauen, sogar ganze Kunst-Retreats anbieten, ebenso wie Einzelcoachings, in denen sie Klienten mit emotionalen Problemen – Selbstzweifeln oder Beziehungskrisen etwa – hilft, diese in Malerei umzusetzen. „Und natürlich ist das Ziel, mehr zu verkaufen“, sagt sie mit einem Lachen. Doch ihr größtes Ziel habe sie schon erreicht. „Ich mache das, was mich erfüllt, verdiene damit Geld und bin glücklich.“

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