Ein Gastkommentar von Gregor Gysi
Gregor Gysi (77) hat an der Berliner Humboldt-Universität Jura studiert und ist Rechtsanwalt. Von 1990 bis 2002 und seit 2005 wurde der frühere PDS- und heutige Linken-Politiker direkt als Abgeordneter in den Bundestag gewählt. Bei der Wahl am 23. Februar bewirbt sich der Spitzenkandidat der Berliner Linken im Wahlkreis Treptow-Köpenick erneut um ein Direktmandat fürs Parlament.
Es gibt einige Bereiche, in denen die DDR weiter war als die Bundesrepublik. Einer davon war das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft. Diese sogenannte Fristenregelung war 1972 eingeführt worden – übrigens das einzige Gesetz, das in der DDR-Volkskammer vor 1990 jemals mit Gegenstimmen beschlossen worden ist.
Ich selbst hatte zuvor Mandantinnen, die verzweifelt waren, als Abtreibungen in der DDR noch verboten waren beziehungsweise einer behördlichen Zustimmung bedurften. Natürlich bin ich an die anwaltliche Schweigepflicht gebunden und kann deshalb hier nicht beschreiben, ob und wie ich ihnen geholfen habe. Doch welche Erleichterung es für die Frauen war, als die Fristenlösung kam, der Eingriff selbst von der Kasse und nicht den betroffenen Frauen bezahlt wurde und auch die Pille ärztlich verordnet werden durfte, sodass die Frauen dafür nichts zu bezahlen hatten, das wurde mir in meiner anwaltlichen Praxis mehr als deutlich.
Schwangerschaftsabbrüche waren in der DDR ab 1972 in den ersten drei Monaten ohne Angabe von Gründen möglich. Ärztlicherseits musste die ungewollt schwangere Frau zuvor lediglich über die Bedeutung und Risiken des Eingriffs informiert sowie über vorhandene Verhütungsmethoden aufgeklärt werden. Trotz dieser liberalen Regelung war die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in der DDR in den 1980er-Jahren die geringste unter den sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas.
Umso unverständlicher war es für die Frauen im Osten, dass diese das Selbstbestimmungsrecht der Frauen berücksichtigende Regelung keinen Eingang in die Gesetzgebung des vereinten Deutschlands fand. Der Einigungsvertrag schrieb vor, bis 1992 eine gesamtdeutsche Regelung zu finden. Dass diese sich dann nahe an den vormaligen bundesdeutschen Regelungen orientierte, entsprach sowohl dem Charakter des Einigungsprozesses insgesamt als auch dem nicht nur in dieser Frage dominierenden Konservatismus der alten Bundesrepublik.
Die Linke und ihre Vorgängerpartei PDS haben mehrfach, zuletzt 2020, versucht, daran etwas zu ändern und im Bundestag Mehrheiten für die Einführung der Fristenregelung zu finden. Doch zu viele Abgeordnete orientierten sich an den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts von 1975 und 1993, in denen eine Fristenregelung für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt wurde. Der Mumm, daran grundlegend etwas zu ändern, scheint mit der Regierung von Willy Brandt in den Tiefen der bundesdeutschen Geschichte verschwunden zu sein.
Deshalb ist die Bundesrepublik bis heute mit der rechtstheoretisch mehr als seltsamen Konstruktion, dass ein Schwangerschaftsabbruch zwar grundsätzlich rechtswidrig ist, aber in den ersten drei Monaten bei Wahrnehmung einer Beratungspflicht straffrei bleibt, rückständiger als die DDR. Die Kosten sind übrigens, außer bei kriminologischen oder medizinischen Indikationen und in einer sozialen Notlage, von den Frauen zu tragen.
Dass es nun ausgerechnet die sich liberal nennende FDP ist, die eine im Bundestag nach dem Ampel-Aus vorhandene Mehrheit für eine Abschaffung der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten drei Monaten ins Leere laufen lässt, sagt viel über den nur noch rudimentär vorhandenen Liberalismus in dieser Partei aus. Ich bin zudem verwundert, wie viele Männer an Kundgebungen zum Verbot der Abtreibungen teilnehmen, obwohl sie nicht einmal im Ansatz wissen, wie sich eine Frau bei einer ungewollten Schwangerschaft fühlt. Außerdem muss man daran erinnern, dass die Männer einen Anteil an der ungewollten Schwangerschaft haben.
Doch ich bin sicher: Ewig werden sich die Frauen nicht vorschreiben lassen, ob sie eine Schwangerschaft austragen oder nicht.