Frisch verliebte Paare können sich stundenlang küssen. Enge Freunde geben sich zur Begrüßung ein Wangen-Bussi, Eltern ihren Kindern einen liebevollen Gute-Nacht-Kuss. Küssen kann leidenschaftlich oder zärtlich sein. Doch immer zeigt es, dass man sich nahesteht.
Kein Wunder also, dass Lippen große Bedeutung für uns haben – und viele bei der Schönheit nachhelfen. Aufspritzen liegt im Trend, auch wegen der sozialen Medien, wo junge Frauen Vorbilder finden. Macht sich das beim Küssen bemerkbar? Und wann ist es zu viel? Fachleute geben zum Welttag des Kusses am 6. Juli Antworten:
Wieso gelten volle Lippen als Schönheitsideal?
«Volle, schöne, sinnliche Lippen stehen für Jugend, für Fruchtbarkeit, auch für sexuelle Attraktivität», sagt Helge Jens, Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie. «Rosige, volle Lippen wirken einfach vital, während schmale, trockene, farblose oder faltige Lippen eher Krankheit und Alter symbolisieren.»
Dazu kommt aus Sicht des Berliner Psychotherapeuten Wolfgang Krüger: «Die Lippen spielen in unserem Gefühlsleben im Grunde eine große Rolle. Denn Küssen ist die beste und die intimste Möglichkeit, Nähe herzustellen.» Es sei sogar intimer und sinnlicher als Sex, meint der Experte, der gerade ein Buch zum Thema veröffentlicht hat. Beim Küssen kämen sich die Gesichter ganz nah, man fühle sich mit der anderen Person innerlich verbunden. «Das merkt man auch, wenn Beziehungen schwieriger werden. Das Erste, das leidet, ist das romantische Küssen.»
Wie viele Menschen lassen sich ihre Lippen aufspritzen?
Das ist schwer zu beantworten. Ein Blick in die Statistik der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie (DGÄPC) zeigt, dass Lippenkorrekturen im vergangenen Jahr nur auf den 15. Platz unter den Schönheitsbehandlungen kamen. 2014 lagen sie noch auf dem 7. Platz. Schaut man sich auf der Straße um, hat man dagegen den Eindruck, dass aufgespritzte Lippen deutlich verbreiteter sind.
Diesen Eindruck bestätigt auch DGÄPC-Präsident Helge Jens. «Ich denke, dass Lippenvergrößerungen in einem hohen Maße nicht in den Facharztpraxen der plastischen Chirurgie gemacht werden, sondern zum Beispiel bei Kosmetikerinnen oder in speziellen Schönheits-Instituten. Es dürfen ja sogar Heilpraktiker machen heutzutage», sagt er. In der Regel werde Hyaluronsäure in die Lippen gespritzt, und das dürfe so gut wie jeder, da sie nicht medikamentös verordnet werden müsse.
Wer macht das vor allem?
«Die überwiegende Zahl sind junge Frauen, die einem bestimmten Schönheitsideal nacheifern wollen», sagt Jens. Inspirationsquelle seien oft Beispiele aus den sozialen Medien. «Die Patientinnen kommen tatsächlich mit ausgedruckten Bildern oder mit Handy-Fotos in die Praxis und sagen, dass sie es gerne genauso hätten.» Ein Trend, den er problematisch findet, da die Lippen auch zum Gesicht passen müssten.
Zu Christiane Bayerl, Direktorin der Klinik für Dermatologie und Allergologie an den Helios Dr. Horst Schmidt Kliniken Wiesbaden, kommen wiederum hauptsächlich Frauen ab den Wechseljahren. «Die Lippen werden schmaler mit dem Alter.» Schmale Lippen könnten als verkniffen empfunden werden.
Weniger als einen Milliliter Hyaluronsäure verwenden Jens und Bayerl eigenen Angaben zufolge für eine Lippenkorrektur. Bayerl sagt, sie schicke Frauen auch mal wieder nach Hause, die bereits Schlauchboot-Lippen hätten und trotzdem noch mehr wollten. Es bestehe dann die Gefahr, dass Blutgefäße verschlossen werden, sagt die Expertin der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft.
Kann es weitere Nebenwirkungen geben?
Ja, und das nicht nur bei stark aufgespritzten Lippen. «Bloß weil ein Großteil der Behandlungen gut geht, ist es nicht harmlos», sagt Jens. «Man muss schon über genaue Anatomiekenntnisse verfügen, um zu wissen, wo man Hyaluronsäure spritzen kann, so dass es den gewünschten Effekt hat.»
Häufige Nebenwirkungen sind nach Angaben von Bayerl blaue Flecken, wenn die Spritze ein kleines Blutgefäß erwischt. «Es kann auch passieren, dass es unsymmetrisch wird und bei einer erneuten Behandlung korrigiert werden muss.» Hinzu komme die Gefahr von Infektionen und – in sehr seltenen Fällen – von Gefäßverschlüssen, die unbedingt behandelt werden müssten, damit sie keine schweren Folgen haben.
Spürt man einen Unterschied beim Küssen?
Das kommt darauf an, wie stark die Lippen aufgespritzt sind. Hält es sich in Grenzen, merke man wahrscheinlich keinen Unterschied, meint Bayerl. «Wenn das sehr ausgeprägt ist, hat das Folgen für die Sensibilität.» Der Grund: Lippen enthalten Nervenenden, die sie empfindlich für Wärme, Kälte und Berührungen machen. «Diese werden durch das Aufspritzen ja nicht mehr, sondern müssen sich über eine größere Oberfläche verteilen», erläutert Jens.
Küssen Menschen mit vollen Lippen besser?
Der Psychotherapeut Wolfgang Krüger denkt nicht, dass dem so ist. Wichtiger ist ihm zufolge die Art, wie ein Mensch lebt. «Ich denke, man sieht einer Person an, ob diese eine sinnliche Bereitschaft hat zu küssen.» Wenn jemand viele Probleme habe, angespannt und zurückhaltend sei, zeige sich das irgendwann auch in den Gesichtszügen. «Die betreffende Person wirkt schmallippig.» Eine Lippenkorrektur kann zwar optisch etwas verändern, die Lebensweise aber bleibt.
Wieso küssen Menschen überhaupt?
Menschen sind die einzige Spezies auf der Erde, die sich küsst. Warum wir dieses Verhalten entwickelt haben, lasse sich aus wissenschaftlicher Sicht nicht eindeutig beantworten, sagt Wolfgang Enard, Experte für evolutionäre Anthropologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. «Eine prominente Idee ist, dass der Kuss über die Weitergabe von Nahrung, also das Vorkauen, entstanden ist.» Außerdem gebe es die Theorie, dass Küssen die Funktion habe, Bakterien auszutauschen und dadurch das Immunsystem zu stärken.
Für plausibler hält Enard aber eine andere Theorie, die aus seiner Sicht auch erklärt, wieso Menschen sich im Gegensatz zu ihren nahen Verwandten küssen: «Bei den Schimpansen läuft die soziale Interaktion ganz viel über die Fellpflege. Man laust sich.» Beim Menschen sei das Fell aber verschwunden, und der Kuss habe sich als Überbleibsel der Fellpflege entwickelt. Egal, ob romantischer Kuss oder freundschaftlicher Kuss zur Begrüßung auf die Wange: «Es ist immer ein starkes soziales Signal». (dpa/wr)