Physik war nie meine große Stärke, und auch zum Erlernen sonstiger Naturgesetze hatte ich keinen leichten Zugang. Doch wenn man auf einer Party, in die hinterste Ecke gedrängt, der Redeschwall eines anderen Partygasts auf einen einprasselt, einen mit dem Satz „Ich bin ja so empathisch“ konfrontiert, ist man auf jeden Fall am falschen Ort. Einfaches Naturgesetz: Je öfter jemand betont, wie empathisch er ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass er es nicht ist.
Diesen Typus kennen wahrscheinlich viele. Oder lesen von ihm auf LinkedIn, auf Instagram und sonstigen Selbstvermarktungsplattformen. Manch einer vermag sich sogar gleich bei der Vorstellung dieses Attribut selbst verleihen. Obgleich es somit schon entlarvt, handelt es sich hierbei schließlich um die Fähigkeit und vor allem Bereitschaft, sich in die Einstellungen anderer einzufühlen. Empathie ist ein beobachtbares Verhalten, sie muss nicht beworben werden.
Warum also haben manche Menschen das Bedürfnis, aus Empathie eine ästhetisierte Pose zu machen?
Dabei will ich nicht jedem selbstdiagnostizierten Empathen moralischen Narzissmus fremddiagnostizieren. Aber diese Gruppe gibt es eben auch. Geht es bei ihnen um den „better-than-average“-Effekt, sprich Selbstaufwertung? Empathie ist in unserer Kultur ein moralisch hoch bewertetes Attribut. In dem Fall ideal zur Selbstaufwertung geeignet.
Hand in Hand mit dieser Vermutung geht der Faktor soziale Erwünschtheit. Empathie ist ein Statussignal. Wer über sich sagt, er sei empathisch, versucht damit oft Zugehörigkeit, Sympathie oder gar moralische Überlegenheit auszustrahlen. Definitiv ebenso performativ, ein Pessimist würde sagen Narzissmus in weichgespülter Gestalt. Und weil ich mich berufen fühle darüber zu schreiben, vielleicht bin ich ein Pessimist.
Doch weil das Wort „Narzissmus“ ebenso inflationär benutzt wird wie „Empathie“, lasse ich Raum für den guten alten Abwehrmechanismus. Empathie als Rüstung? Sicher gibt es auch Menschen, die mit dieser Betonung nur ein fragiles Selbstbild kaschieren. „Bitte bestätige, dass ich gut bin!“ oder „Ich bin einer der Guten, also kann ich gar nicht problematisch sein.“
Menschlich gesehen ist das alles verständlich. Historisch gesehen kürzlich erst haben wir durch Soziale Netzwerke Zugang zu dieser ständigen und niedrigschwelligen Chance zu Selbstinszenierung und
-bewerbung bekommen. Wie aufregend ist das denn? Da kann mit dem Menschen schon einmal der Übermut durchgehen. Womöglich der Grund dafür, dass jeder auf einmal empathisch, hochsensibel und insgesamt sowieso ein verkanntes Genie sozialer Interaktion ist.
Für mich bleibt es dabei: Es gibt Attribute, die sollte man sich nicht selbst verleihen. Und genauso wie nicht jeder Exfreund neuerdings ein Narzisst ist (was ist eigentlich aus dem einfachen „Vollidiot“ geworden?), ist auch nicht jeder Mensch, der sich selbst gerne reden hört, gleich ein Empath. Schön wäre das. Doch an ihren Taten sollte man sie messen, nicht an ihren Worten. Was meint ihr?
Alexa Gräf
Redakteurin Courage


