Mehr als 90 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland wünschen sich, dass Finanzbildung schon in der Schule vermittelt wird. Michelle Reinhardt, Lehrerin an den Beruflichen Schulen Groß-Gerau, setzt sich genau dafür ein. Wir haben sie gefragt, warum – und welche Erfahrungen sie dabei macht.
Courage: Frau Reinhardt, Sie bieten Kurse zur Finanzbildung in der Schule an – für Lehrer und Lehrerinnen. Und für Schüler ein Wahlfach zur Finanzbildung. Warum klemmen Sie sich so dahinter, das Thema Geld an die Schulen zu bringen?
Michelle Reinhardt: Weil wir dringend mehr Finanzbildung an Schulen brauchen. Wir müssen die jungen Menschen besser auf den richtigen Umgang mit ihren Finanzen vorbereiten.
Woran machen Sie das fest?
16 Prozent der 14- bis 29-Jährigen haben in der Trendstudie „Jugend in Deutschland 2023“ angegeben, dass sie Schulden haben. Gleichzeitig kursiert auf TikTok die Klarna Schulden Challenge. Hier stellen Jugendliche ihre Schulden bei dem Zahlungsdienstleister zur Schau. Da bekommt man schnell einen Eindruck, wie gravierend das Thema ist. Ein Grund, warum so viele junge Menschen in die Schuldenfalle tappen, ist das bequeme „Buy now – pay later“, das gerade bei der Generation Z sehr beliebt ist. Und der Trend wird sich fortsetzen: Bis 2030 sollen die Ausgaben der Generation Z und der darauffolgenden Generation Alpha dreimal so schnell wachsen wie die der anderen Generationen. So werden sie immer attraktiver als Zielgruppe für Werbung – insbesondere auf Social Media und von Influencern.
Das heißt: Mit ihrem Angebot wollen Sie die jungen Menschen zu mündigen Verbrauchern machen.
Ja – aber nicht nur. Die finanzielle Grundbildung an Schulen ist obendrein eine Voraussetzung für Gleichberechtigung. Der bereinigte Gender Pay Gap in Deutschland liegt bei sechs Prozent. Frauen verdienen also sechs Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen – für den gleichen Job mit der gleichen Qualifikation. Zudem sind deutsche Frauen fünf Mal häufiger von Altersarmut betroffen als Männer. Meine These ist: Aus Mädchen, mit denen niemand über Geld spricht, werden keine Frauen, die erfolgreich ihr Gehalt verhandeln. Auch deshalb müssen wir Finanzbildung an die Schulen bringen.
Sie sind Studienrätin für Wirtschaft und Englisch. Welche Erfahrungen machen Sie selbst, wenn Sie Ihren Schülerinnen und Schülern Wirtschaftswissen vermitteln?
Mit Schulfächern an allgemeinbildenden Schulen, die je nach Bundesland „Gesellschaftslehre“, „Arbeitslehre“ oder „Wirtschaft – Arbeit – Technik“ heißen, gibt es grundsätzlich einen Rahmen für Wirtschafts- und Verbraucherbildung. Da werden zum Beispiel Themen wie fairer Handel oder Werbung besprochen. Und dann gibt es noch die beruflichen Schulen, an denen sogar Wirtschaft als Schwerpunktfach unterrichtet wird. Irgendwo dazwischen scheint die Finanzbildung für Kinder und Jugendliche jedoch verloren zu gehen. Wenn ich den Schülerinnen und Schülern zwischen 16 und 18 Jahren beispielsweise die Wege zur Finanzierung einer Unternehmensgründung erkläre, fällt mir auf, dass sie oft gar nicht wissen, welche Zinsen es aktuell am Kapitalmarkt gibt oder was ein Tagesgeld- oder Festgeldkonto überhaupt ist. Daher biete ich im nächsten Schuljahr ein Wahlfach zur Finanzbildung an der Fachoberschule an…
… das natürlich auf Freiwilligkeit basiert. Müsste Finanzbildung nicht endlich Einzug in die Lehrpläne halten oder sogar als eigenes Fach auftauchen?
Ja. Denn sonst werden dafür keine zusätzlichen Kapazitäten und Ressourcen geschaffen. So bleibt die schulische Finanzbildung abhängig vom Interesse und dem zusätzlichen Engagement von Lehrkräften und Schulleitungen.
Sie selbst bilden auch Lehrkräfte zum Thema Finanzen fort. Auf wie viel Interesse stoßen Sie dabei? Brennen Ihre Kolleginnen und Kollegen auch für das Thema – oder umschiffen sie es lieber?
Das Interesse ist verhalten. Viele Menschen sind von der vermeintlichen Komplexität von Finanzthemen erst mal abgeschreckt. Dabei sind Lehrkräfte Profis darin, sich schnell neue Themen zu erschließen und diese aufzubereiten. Ich möchte meine Kolleginnen und Kollegen ermutigen, sich zu trauen. Außerdem geht es nicht darum, plötzlich ein umfangreiches Finanzwissen abzurufen. Vielmehr müssen wir im Rahmen der Finanzbildung kritisches Denken und Medienkompetenz fördern.
Ist Finanzbildung nicht vor allem eine Aufgabe der Eltern? Wird in den Familien Ihrer Ansicht nach zu wenig über Geld gesprochen? Und wenn ja, warum?
Wenn wir Finanzbildung den Eltern überlassen, wird sie zur sozialen Frage. Immerhin leben in Deutschland fast 3 Millionen Kinder und Jugendliche in Armut. Bei einer Studie im Jahr 2022 gaben zudem ein Viertel der Erwachsenen in Deutschland an, sich in Finanzangelegenheiten überfordert zu fühlen. Außerdem können Finanzen je nach Generation und Biografie der Eltern ein emotionales Thema sein. Beispielsweise hat fast jeder auch schon mal den Spruch „Über Geld spricht man nicht“ gehört.
Was können interessierte Eltern tun?
Ein erster Schritt ist, sich dafür einzusetzen, den „Zukunftstag“ an die Schule ihrer Kinder zu holen. Die unabhängige Initiative für wirtschaftliche Jugendbildung kommt für einen Tag und bietet Workshops zu Steuern, Finanzen, der ersten eigenen Wohnung und Krankenversicherung an und verspricht einen geringen Organisationsaufwand für die Schule. Infos gibt es unter www.zukunftstag.org. Außerdem können Eltern sich an die Schulleitungen wenden. Diese können bei der Personalentwicklung zum Beispiel einen Schwerpunkt auf Verbraucherbildung oder Finanzbildung legen.
Info: So erreichen interessierte Lehrkräfte die Studienrätin und Referentin Michelle Reinhardt: E-Mail: learndigitallywithme@outlook.de
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