Als die Türklingel läutet, ahnt Bruni Scheibe bereits, wer den Knopf gedrückt hat. «Können wir hereinkommen?», fragen die Nachbarskinder. Gerade passt es nicht – vielleicht nach dem Gespräch mit der Journalistin.
Mit zehn Kindern und 36 Erwachsenen lebt die 77-jährige Bruni Scheibe in dem Mehrgenerationen-Wohnprojekt Pauluscarrée in der Bielefelder Innenstadt. Unter dem Motto «so bunt wie möglich» teilen sich vier Generationen hier insgesamt 24 Wohnungen. Die Bewohner haben unterschiedliche Einkommensverhältnisse und kommen aus sieben verschiedenen Herkunftsländern.
Gemeinsam statt einsam – auch ein Vorteil für Stadtplaner
Mehrgenerationenwohnen: Für viele Menschen klingt das nach der einsamen Rentnerin, die dem Nachbarskind vorliest, oder dem agilen Studenten, der für die erkrankte Seniorin von nebenan einkaufen geht.
Tatsächlich ist die nachbarschaftliche Unterstützung einer der größten Vorteile von Mehrgenerationenprojekten. «Solche Projekte sind Reaktionen auf die Zunahme der Älteren durch den demografischen Wandel und den daraus erwachsenden Wunsch, den verschiedenen Generationen die Möglichkeit zu geben, miteinander in Kontakt zu treten oder auch Beziehungen aufzubauen», sagt Ricarda Pätzold vom Deutschen Institut für Urbanistik.
Das sei auch für die Kommunen von Interesse. Denn eine Mischung der Generationen und sozialen Schichten sei die Grundlage für ein robustes Infrastrukturangebot in den Quartieren, so Pätzold, Leiterin des Forschungsbereichs Stadtentwicklung, Recht und Soziales.
Ob Spielplatz, Familienberatung oder Pflegeangebote – bei einer homogenen Anwohnerschaft wäre das Quartier auf ganz bestimmte Bedürfnisse ausgerichtet. Mit zunehmendem Alter der Anwohner würden sich diese Bedürfnisse jedoch ändern und die Infrastruktur müsste zeitgleich daran angepasst werden.
Entscheidungen aushandeln
Als Bruni Scheibe, als eine von vier Frauen, im Jahr 2010 begann das Bielefelder Wohnprojekt zu planen, wollte sie damit vor allem eines: «nicht putzig werden». Nach dem Tod ihres Mannes suchte sie Gemeinschaft und eine sinnstiftende Aufgabe. «Ich kann gut für mich alleine sorgen. Aber zu wissen, dass ich theoretisch an 23 Türen klingeln könnte und überall Hilfe bekäme, gibt mir ein gutes Gefühl», sagt sie.
Doch Gemeinschaft bedeutet immer auch, sich miteinander auseinanderzusetzen. Ob im monatlich stattfindenden Plenum, in Arbeitsgruppen oder bei Themenstunden – alle Entscheidungen der Hausgemeinschaft werden gemeinsam besprochen und beschlossen. Das kann zu langwierigen Entscheidungswegen und Reibungen führen.
Da ist geistige Flexibilität wichtig. «Ich bin gefordert, mich mit anderen Positionen auseinanderzusetzen. Das ist doch logisch, wenn mehrere Leute zusammen sind. Ich empfinde das aber als attraktiv», sagt Bruni Scheibe.
Wünsche klar formulieren
«Ein Wohnprojekt entsteht ja nicht über Nacht, sondern hat viele Jahre Vorlaufphase», sagt Dr. Romy Reimer, Geschäftsführerin vom FORUM für Gemeinschaftliches Wohnen.
Je konkreter die eigenen Wünsche und Vorstellungen im Vorfeld formuliert, ausgehandelt und festgehalten wurden, desto weniger Überraschungen gäbe es später im Zusammenwohnen.
«Man sollte sich klarmachen, ob man ein Mensch ist, der dieses Mehr an Gemeinschaft wirklich möchte und im Alltag auch tragen kann», sagt Reimer. Wertschätzende und gewaltfreie Kommunikation sei ebenso wichtig, wie Verantwortung zu übernehmen.
Aushandeln gehört zum Alltag in Mehrgenerationen-Wohnprojekten – dessen sollten sich Interessenten bewusst sein, genauso wie über die eigenen Erwartungen und Wünsche an das potenzielle neue Zuhause.
Alltag, Hobbys und Aufgaben teilen
Gemeinsames Kochen oder Plaudern, Spiel und Spaß mit den Kindern, Weiterbildungsangebote oder Tauschbörsen: Die Vorteile des Zusammenwohnens sind zahlreich.
Zum Pauluscarrée gehören auch ein Gemeinschaftsraum mit Kinderzimmer sowie Gästezimmer. Anwohner und Menschen aus dem Quartier können diese Zimmer nutzen beziehungsweise mieten.
Doch das Wohnen in Gemeinschaft erfordert auch viel Arbeit, etwa Hausmeister- und Putzdienste oder im eigens gegründeten Verein mitzuwirken. Deshalb setzt die Wohngemeinschaft auf Menschen, die sich einbringen.
«Wir brauchen Leute, die sich an dem beteiligen, was das Projekt ausmacht. Ich bin da im Laufe der Jahre klar und gnadenlos geworden, weil ich die Zukunft des Projektes vor Augen habe», sagt Bruni Scheibe.
Die Nachhaltigkeit des Wohnprojektes zu gewährleisten, sei eine der obersten Prämissen für die Wohngemeinschaft. «Wenn ich nicht bereit bin, mich zu bewegen, zu lernen, und meine eigene Perspektive zu verändern und zu überdenken, dann kann es nicht funktionieren», sagt Bruni Scheibe.
An die Zukunft denken
Auch aus Sicht von Romy Reimer ist es wichtig, das Thema Nachfolge zu klären. Außerdem rät sie, frühzeitig eine mögliche Integration von pflege-ambulanten Angeboten mitzudenken, ebenso wie Vorsorgevollmachten. «Die Mitglieder jedes Wohnprojektes sollten sich darüber verständigen, was passieren soll, wenn jemand pflegebedürftig wird», so Reimer.
Zu diesen und anderen Fragen gibt es zahlreiche Beratungsangebote, die das FORUM Gemeinschaftliches Wohnen gebündelt hat. «Wir sind eine Lotsen-Stelle und können Menschen dabei helfen überhaupt erst einmal loszulaufen und sich Informationen an den richtigen Stellen zu holen», erklärt Reimer. Wer konkreter über die Wohnform nachdenkt, dem bietet das Portal auf seiner Internetseite www.fgw-ev.de eine Projektbörse mit zahlreichen Inseraten von gemeinschaftlichen Wohnprojekten oder Menschen, die Mitstreiter suchen.
Bruni Scheibe traf ihre Mitstreiterinnen damals, eher zufällig, auf einer städtisch organisierten Veranstaltung zum Thema Wohnprojekte. Nach ein paar Jahren Planung und dank einer Prise Glück, konnten sie in ihr Pauluscarrée einziehen. Ein Jahrzehnt ist das jetzt her. Es klingelt wieder – die Nachbarskinder. Bruni Scheibe lacht. «Mich freut das. Es macht mir viel Spaß hier», sagt sie.