Der Kanzler und sein Spion: 50 Jahre Guillaume-Affäre

Bundeskanzler Willy Brandt und Familie werden beim Spaziergang von Günter Guillaume (r) begleitet.
Bundeskanzler Willy Brandt und Familie werden beim Spaziergang von Günter Guillaume (r) begleitet. Foto: Peter Popp/dpa
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Willy Brandt holte Wahlsiege für die SPD, für seine Ostpolitik erhielt er den Nobelpreis. Dann stürzte ihn ein Spionageskandal. Oder hatte das andere Gründe? Und was hat das Tempolimit damit zu tun?

Als Willy Brandt am Mittag des 24. April 1974 nach einer Dienstreise am Flughafen Köln-Bonn landet, warten auf dem Rollfeld sein Kanzleramtschef Horst Grabert und Innenminister Hans-Dietrich Genscher. «Schon auf Abstand war ihnen anzusehen, dass sie mir etwas Besonderes zu sagen hätten», erinnert sich Brandt später.

Am frühen Morgen sind Brandts Referent Günter Guillaume und dessen Frau Christel festgenommen worden. Beide sind Spione der DDR-Staatssicherheit. «Die Nachricht war ein Hammer», schreibt Brandt in seinen «Erinnerungen». Am 6. Mai 1974 tritt der Sozialdemokrat vom Amt des Bundeskanzlers zurück.

Auch 50 Jahre später gilt die sogenannte Guillaume-Affäre als einer der spektakulärsten Spionagefälle der Bundesrepublik. «Weder davor noch danach war es einem Agenten aus dem kommunistischen Herrschaftsbereich gelungen, so weit in das innerste Zentrum der politischen Macht vorzudringen», bilanzierte jüngst die Jenaer Historikerin Annette Weinke in einem Vortrag bei der Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung. Der «kommunistische Herrschaftsbereich» ist Geschichte, der ganze Skandal wirkt wie ein fernes Echo des Kalten Kriegs. Einerseits. Andererseits fasziniert der Fall bis heute. Wie konnte ein damals wie heute ikonenhaft verehrter Bundeskanzler und Friedensnobelpreisträger darüber stürzen?

«Kanzler in der Krise»

Das politische Umfeld wirkt verblüffend aktuell. So titelte der «Spiegel» im Herbst 1973 mit dem vermeintlich führungsschwachen «Kanzler in der Krise» und schrieb: «In der Regierung lässt der Kanzler nach dem Geschmack vieler Genossen der FDP zu viel Freiheit, und der Gedanke an seinen Sturz ist nicht mehr tabu.» Hört sich bekannt an?

Auch die konkreten politischen Probleme erinnern an heute. Ein Krieg hatte eine Energiekrise ausgelöst, damals der sogenannte Jom-Kippur-Krieg nach einem Angriff arabischer Staaten auf Israel. «Das Wachstum stagnierte, die Arbeitslosigkeit stieg, das Preisniveau ebenfalls», schreibt Brandt. Dazu kamen Tarifkonflikte und Streiks sowie ein Thema, das offenbar ewig währt: «Der Vorschlag eines Tempolimits scheiterte am resoluten Einspruch der parteiliberalen Kollegen.»

Brandt hatte noch 1972 einen grandiosen Wahlsieg für die SPD geholt. Doch inzwischen kabbelte er sich mit dem Koalitionspartner FDP und mit Herbert Wehner, dem Chef der SPD-Bundestagsfraktion. CDU/CSU stellten sich gegen seine Ostpolitik, also die Entspannung im Verhältnis zur damaligen Sowjetunion und zur DDR mit den sogenannten Ostverträgen. 1973 trat der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag in Kraft, die faktische Anerkennung der DDR. Zentraler Punkt war die Eröffnung «ständiger Vertretungen» beider Seiten in Bonn beziehungsweise Ostberlin, geplant für Mai 1974. Wenige Tage vorher also der «Hammer»: die Festnahme der Guillaumes in ihrer Wohnung an der Ubierstraße in Bonn-Bad Godesberg.

Von der Kaffeestube ins Kanzleramt

Günter Guillaume war 1927 in Berlin geboren worden und 1956 als angeblicher Flüchtling mit seiner Frau Christel aus der DDR nach Frankfurt am Main übergesiedelt. Tatsächlich waren beide im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit unterwegs, Decknamen «Hansen» und «Heinze». Sie eröffneten einen Tabakladen und traten auftragsgemäß in die SPD ein. Günter Guillaume managte den Wahlkampf des SPD-Verkehrsministers Georg Leber und erhielt daraufhin Lebers Empfehlung für einen Referentenposten im Kanzleramt.

Guillaumes DDR-Vergangenheit, Ungereimtheiten bei der Sicherheitsüberprüfung und selbst Geraune über seine Mittelmäßigkeit stoppten den Mann nicht. Im Herbst 1972 stieg er zum persönlichen Referenten des Bundeskanzlers auf, zuständig für Brandts Termine als SPD-Chef, wie die wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Forschungsabteilung der Willy Brandt Stiftung, Kristina Meyer, in ihrem Rückblick auf die Geheimdienst-Affäre berichtet. Doch schon im Mai 1973 hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz konkrete Verdachtsmomente gegen Guillaume. Man war ihm auf der Spur, fast ein Jahr vor seiner Verhaftung.

Brandt wurde informiert. Aber die Ermittler baten ihn, Guillaume im Amt zu lassen, um Beweise gegen ihn zu suchen. Der Referent fuhr im Sommer 1973 sogar mit den Brandts in den Urlaub nach Norwegen und hantierte dort mit geheimen Dokumenten. Als im Frühjahr 1974 der Druck wuchs, dem mutmaßlichen Spion das Handwerk zu legen, hatten die Ermittler immer noch nicht genug in der Hand. Sie hatten Glück, Guillaume enttarnte sich selbst, als er im Morgenmantel der Polizei die Tür öffnete. Er sei «Bürger der DDR und ihr Offizier», sagte der damals 47-Jährige laut Brandts «Erinnerungen».

Der Kanzler erpressbar?

«Dem Kanzler waren die Versäumnisse im ‘Fall Guillaume’ nicht anzulasten», analysiert der Historiker August Hermann Leugers-Scherzberg. «Verfassungsschutz und Innenministerium hatten versagt.» Warum also trat nicht der Innenminister zurück, sondern der Kanzler?

Anlass waren Aussagen von Brandts Personenschützern, die womöglich unter Druck zustande kamen. Die Essenz waren Sexgerüchte: Der Leiter der Sicherungsgruppe Bonn und Guillaume selbst hätten die Aufgabe gehabt, «dem Kanzler Frauen zu verschaffen», seien es Journalistinnen, Zufallsbekanntschaften oder Prostituierte. Somit besitze Guillaume erpresserisches Wissen über den Kanzler, schrieb der Präsident des Bundeskriminalamts, Horst Herold, am 30. April an Innenminister Genscher. Verfassungsschutzpräsident Günter Nollau soll auf Rücktritt gedrungen haben.

Brandt selbst bestritt, dass er erpressbar sei. Guillaume verfüge nicht über ihn betreffende Informationen, die die Interessen des Staats berührten, heißt es in seinem Buch. «Brandt wähnte sich daher als Opfer einer Intrige des Verfassungsschutzes», schreibt Leugers-Scherzberg. Brandt war wegen der innenpolitischen Schwierigkeiten bereits angeschlagen. Nach Guillaumes Enttarnung fühlte er sich fallengelassen, insbesondere von seinem Genossen Wehner. Brandt ging.

«Ich war nur der Knüppel»

Guillaume sagte später einmal: «Ich war nur der Knüppel, mit dem man ihn aus dem Amt trieb.» In einem 15-seitigen Bericht vertrat die Staatssicherheit dieselbe Linie. Brandts Sturz war offenkundig nicht im Sinne der DDR-Führung, verlor sie doch den Bonner Protagonisten der Ostpolitik. So schrieb die Stasi: «Die Verhaftung seines persönlichen Referenten wurde von den reaktionären und entspannungsfeindlichen Kräften zum Anlass für eine weitere Steigerung der planmäßig geführten Kampagne gegen die Person Brandts genommen.»

Brandt blieb trotz des Rücktritts als Bundeskanzler SPD-Chef. Das Regierungsamt übernahm Helmut Schmidt. Genscher wurde Außenminister. Günter und Christel Guillaume wurden 1975 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, aber 1981 im Austausch gegen Bundesbürger in die DDR entlassen. Stasi-Minister Erich Mielke empfing sie wie Helden: «Euer Auftrag, für die Sache des Sozialismus und des Friedens bis zur letzten Möglichkeit zu kämpfen, wurde ehrenvoll erfüllt.» Günter Guillaume starb 1995. Christel ließ sich scheiden und lebte bis 2004. (dpa/cw)

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