Eigentlich hatte kaum noch jemand damit gerechnet, dass Rishi Sunak doch noch seinen Antrittsbesuch in Berlin absolviert. Hinter vorgehaltener Hand witzelten viele politische Beobachter in London angesichts des Umfragetiefs von Sunaks Konservativen, der britische Premierminister sei ja ohnehin nicht mehr lange im Amt, da lohne sich die Reise zu Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gar nicht mehr.
Nun kommt Sunak doch noch nach Berlin – fast auf den Tag genau anderthalb Jahre nach Amtsantritt. Nach einem Besuch in Warschau wird er heute vor dem Kanzleramt von Scholz mit militärischen Ehren empfangen.
Sunak kommt mit Rückenwind durch Asyl-Beschluss nach Berlin
Zwar taumelt Sunaks Tory-Partei einer historischen Niederlage bei der bevorstehenden Parlamentswahl entgegen, die noch vor Jahresende stattfinden soll. Nach Berlin trägt ihn nun aber ein gewisser Rückenwind.
Anfang der Woche billigte das Parlament nach langem Streit Sunaks umstrittenen Asylpakt mit Ruanda: Asylsuchende, die ohne gültige Papiere in Großbritannien eintreffen, sollen künftig umgehend in das ostafrikanische Land abgeschoben werden. Sie können dort Asyl beantragen, nach Großbritannien dürfen sie aber – ungeachtet ihrer Herkunft – nicht mehr.
Die internationale Kritik ist gewaltig, aber Sunak ficht das nicht an. Er beharrt darauf, dass die gewählte Regierung bestimme, wer ins Land dürfe, und nicht ein «ausländisches Gericht» wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
Auch in Deutschland werden die britischen Pläne mit Interesse verfolgt. Die Union dringt seit langem darauf, Asylverfahren in Länder außerhalb der EU zu verlagern. Die Bundesregierung hat den Ländern eine Prüfung zugesagt. Bis zur nächsten Ministerpräsidentenkonferenz am 20. Juni sollen erste Ergebnisse vorgelegt werden.
Hauptthema Ukraine-Hilfe: Ende der US-Blockade bringt Schub
Ganz oben auf der offiziellen Agenda des deutsch-britischen Gipfels in Berlin dürfte aber ein anderes Thema stehen: Die Militärhilfe für die von Russland angegriffene Ukraine, die durch das Ende der monatelangen Blockade der US-Unterstützung nun einen neuen Schub bekommt. 61 Milliarden US-Dollar (57 Milliarden Euro) für Kiew werden damit freigesetzt. Möglicherweise werden die USA schon bald ATACMS-Raketen mit einer Reichweite von 300 Kilometern liefern, mit denen russische Versorgungslinien weit hinter der Front bekämpft werden können.
Sunak hat seinerseits gerade das bisher größte britische Militärpaket für die Ukraine zugesagt. Neben 60 Kampfbooten und Hunderten gepanzerten Fahrzeugen umfasst es auch weitere Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow. Die Zusagen der amerikanischen und britischen Raketen mit großer Reichweite könnten auch die Debatte über die Lieferung der deutschen Taurus-Marschflugkörper wieder anheizen. Der Sicherheitsexperte Maximilian Terhalle von der London School of Economics geht davon aus, dass das beim Gespräch von Scholz und Sunak Thema sein wird. «Da Großbritannien seine Storm Shadows erneut liefert, wird auch die Frage Taurus wieder aufkommen», sagt er.
Taurus-Ringtausch mit Großbritannien scheint vom Tisch zu sein
Es gilt aber als unwahrscheinlich, dass Scholz sich von seinem Nein zu Taurus abbringen lassen wird. Auch ein zwischenzeitlich diskutierter Ringtausch mit Großbritannien, bei dem die Briten Taurus-Raketen bekommen würden, um noch mehr Storm Shadows in die Ukraine liefern zu können, wird in Berlin inzwischen für unpraktikabel gehalten. Scholz geht es stattdessen aktuell darum, in der EU die Lieferung sieben weiterer Luftabwehrsysteme für die Ukraine zu organisieren. Deutschland ist dabei mit gutem Beispiel voranmarschiert und hat ein weiteres Patriot-System locker gemacht.
Ohnehin sieht sich Scholz inzwischen als der mit Abstand wichtigste europäische Waffenlieferant der Ukraine – auch weit vor Großbritannien. Bei den Ausgaben für das eigene Militär preschte Sunak allerdings vor seinem Berlin-Besuch vor und kündigte eine Erhöhung auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts an – 0,5 Prozentpunkte mehr als das derzeitige Nato-Ziel von 2,0 Prozent, das Deutschland in diesem Jahr erstmals seit Jahrzehnten wieder erreicht.
Auch Gaza-Krieg und Brexit auf der Tagesordnung
Weiteres Thema im Kanzleramt dürfte der Gaza-Krieg sein. Die Bundesregierung wie auch Downing Street haben ihre Kritik am militärischen Vorgehen Israels im Gaza-Streifen zuletzt schrittweise verschärft. Beide Länder werfen humanitäre Güter über dem umkämpften Küstenstreifen ab. Im Unterschied zu Deutschland beteiligte sich Großbritannien jüngst auch an der Abwehr des iranischen Angriffs auf Israel.
Nicht zuletzt werden Scholz und Sunak über die Beziehungen beider Länder nach dem Brexit reden. Der bilaterale Handel hat sich zwar erholt und Großbritannien ist in die Top Ten der deutschen Außenhandelspartner zurückgekehrt. Deutsche Unternehmen klagen aber noch immer über Probleme. Auch an anderer Stelle hakt es. Sunak lehnte erst kürzlich zur Freude konservativer Hardliner ein EU-Angebot zu Gesprächen über ein Mobilitätsprogramm für junge Leute nach dem Brexit brüsk ab. Es gibt also auch da reichlich Gesprächsbedarf. (dpa/ag)