Der Zweite Weltkrieg liegt fast 80 Jahre zurück, aber Friedrich Nowottny hat seine Geräusche noch im Ohr. Der Ukraine-Krieg aktiviert sie und erfüllt den Journalisten mit tiefer Sorge.
Ein verschmitztes Lächeln und dann die knappe Ankündigung: «Auf Wiedersehen – das Wetter.» Wenn Friedrich Nowottny auf diese wohlvertraute Manier den «Bericht aus Bonn» abschloss, dann ging der Fernsehzuschauer anschließend mit der Gewissheit ins Bett, die Bundespolitik wieder einmal völlig durchblickt zu haben.
Heute, viele Jahrzehnte später, erinnern in seiner Bonner Wohnung nur noch ein paar Karikaturen an die große Zeit im Fernsehen. Alles andere hatte er weggegeben. Fünf Jahre fehlen Friedrich Nowottny noch bis zum vollen Jahrhundert: Am heutigen Donnerstag wird der ehemalige Fernsehjournalist und WDR-Intendant 95 Jahre alt. Er hat mittlerweile zwei Urenkel, Zwillinge im Alter von zwei Jahren.
«Wunderbar, herrlich», schwärmt er im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Aber die Freude über die beiden Jungen wird verdunkelt durch den Krieg in der Ukraine. «Ich bin sehr besorgt, außerordentlich beunruhigt», sagt er. Dabei spielt mit, dass er selbst mit 15 Jahren in Hitlers sogenanntem «Volkssturm» in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs eingesetzt wurde.
Ex-Fernsehjournalist blickt zurück
Nowottny ist eigentlich immer ein Mensch gewesen, der ganz im Jetzt gelebt hat. Anders als so viele andere in die Jahre gekommene Prominente pflegt er nie von seiner großen Zeit zu erzählen. Stattdessen will er sich über die aktuelle Tagespolitik austauschen, die jüngsten Bundesligaspiele diskutieren oder Neuigkeiten aus der Medienbranche hören. Diesmal aber ist es anders, diesmal blickt er zurück. Weit zurück. Allein das ist ein Alarmzeichen.
Nowottny wurde 1929 in Oberschlesien im heutigen Polen geboren. Bis Anfang 1945, als die Rote Armee auf das Gebiet vorrückte, war dort relativ wenig vom Krieg zu spüren gewesen. Dann aber wurde es ernst. «Das treibt mich jetzt gelegentlich um. Eine der schlimmsten Erinnerungen für mich ist das Geräusch von Panzern auf Straßen. Dieses unglaubliche Geräusch der Ketten auf Pflaster, das habe ich immer im Ohr.»
Erster Schluck Alkohol im Schützenloch
Ende Januar 1945 wurde Nowottny ebenso wie sein bis dahin freigestellter Vater zum «Volkssturm» einberufen. «Ich weiß noch genau, wie mein Vater und ich im Schützenloch nebeneinander standen, und mein Vater zog die Feldflasche raus und sagte: «Komm, nimm einen kleinen Schluck, das wird dir guttun. Es ist so kalt.» Da habe ich den ersten Schluck Alkohol getrunken.»
In einer Frontzeitung stieß der Vater auf eine Bekanntmachung, wonach alle Soldaten des Jahrgangs 1929 ins Sudetenland verlegt werden sollten. Mit Verweis auf diesen Befehl setzte der Vater durch, dass Friedrich nicht an die Front kam. «Mein Sohn nicht!», beschwor er einen Oberleutnant. «So erlebte ich dann den Abmarsch des Ersatzbataillons mit meinem Vater. Zwei Wochen später war mein Vater gefallen.» Er hingegen konnte sich nach Passau durchschlagen. Dort wurde er erneut aufgegriffen und in Hitlers Geburtsort Braunau am Inn stationiert. «Ausgerechnet!»
Nun aber kamen die Amerikaner. «Anyone here who speaks English?» Ja, da war einer – denn Nowottnys Englischlehrer hatte ihn während seiner Schulzeit getriezt wie sonst nur noch der Mathelehrer. «Das war meine Rettung, nun war ich Dolmetscher. Captain Cox war der Stadtkommandant, mein Lebtag werde ich das nicht vergessen.»
Ukraine-Krieg lässt Erinnerungen wieder aufkommen
Plötzlich hält er inne, setzt sich aufrechter hin und sagt, wie um sich selbst zu disziplinieren: «Das ist alles lange her.» Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: «Und trotzdem, durch den Ukraine-Krieg steht mir diese Situation jetzt wieder vor Augen. Wobei die Ukraine ganz anders ist. Die Zerstörungskraft der heute üblichen Artillerie und Raketen ist unvergleichlich. Das sind schreckliche Waffen. Ich kann nur sagen, hoffentlich bleibt uns das erspart und meinen Kindern, Enkeln und Urenkeln bleibt das erspart. Ich weiß nicht, wie das alles enden könnte.»
Hätte er es für möglich gehalten, dass er so etwas noch einmal erleben würde – einen Krieg in Europa? «Ich bitte Sie! Nein. Wer hat denn damit gerechnet nach den Umarmungsszenen mit den Russen? Ich war bei Gorbi an seinem letzten Arbeitstag.» Nowottny war von 1985 bis 1995 Intendant des Westdeutschen Rundfunks und als solcher auch für das ARD-Studio Moskau zuständig. Er besuchte die russische Hauptstadt immer mal wieder zu Vertragsunterzeichnungen und erlebte so auch ausschnittweise die Phase des großen Umbruchs mit: den Aufstieg und Fall des letzten sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow, der ihm scherzhaft einen «slawischen Rundschädel» attestierte.
Als er Ende 1991 in Gorbatschows Büro gekommen sei – «ein ganz kleines Büro, weil der Kreml renoviert wurde» – habe der russische Präsident Boris Jelzin schon vor der Tür gestanden, um ihn abzulösen. Es war nichts weniger als der Untergang der Sowjetunion, der in dieser Szene Gestalt annahm und sich dem Zaungast aus Deutschland für immer eingebrannt hat.
Friedrich Nowottny hat die gesamte Geschichte der Bundesrepublik bewusst miterlebt. Die Verwurzelung der Demokratie, ihre Akzeptanz mit allen Skandalen und Krisen, hält er für die größte Errungenschaft der Epoche. «Ich bin einer der Letzten, die noch aus eigener Erfahrung wissen, dass Freiheit alles andere als selbstverständlich ist», sagt er. Dann steht er auf, überraschend schnell für einen Menschen seines Alters. Er müsse sich jetzt entschuldigen, sagt er. Seine Frau brauche ihn. (dpa/ag)