In einer Grundsatzrede zu Europa fordert Frankreichs Präsident einen Ruck in der EU. Souveränität, Stärke und Sicherheit müssten dringend erhöht werden. «Europa kann sterben», warnt er.
Vor der Europawahl hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einen Ruck in Europa für mehr Unabhängigkeit, wirtschaftliche Stärke und Sicherheit gefordert. Angesichts militärischer Bedrohungen, der Konkurrenz durch die USA und China sowie einer Infragestellung der Demokratie müsse Europa seine Souveränität ausbauen, seine Werte verteidigen sowie seine Interessen und Märkte schützen, forderte Macron in einer Grundsatzrede an der Pariser Sorbonne-Universität.
Der Auftritt war Macrons Einstieg in den Europawahlkampf, bei dem es für das Lager des Liberalen in Frankreich im Moment gar nicht gut aussieht.
«Wir müssen uns heute darüber im Klaren sein, dass unser Europa sterblich ist, es kann sterben», sagte Macron. «Das hängt einzig und allein von unseren Entscheidungen ab, aber diese Entscheidungen müssen jetzt getroffen werden.» Im nächsten Jahrzehnt sei das Risiko groß, dass Europa «geschwächt oder sogar deklassiert werde», sagte Macron. «Wir stehen an einem Wendepunkt.» Die Zeit, in der Europa seine Energie und Rohstoffe aus Russland bezogen habe, viele Produkte aus China geliefert wurden und die USA die Sicherheit gewährleistet hätten, sei vorbei.
Überdenken der europäischen Handelspolitik notwendig
Konkret forderte Macron eine europäische Verteidigungsstrategie mit einer gemeinsamen Rüstungsindustrie und mit einer über Fonds der EU finanzierten beschleunigten Aufrüstung, um der Bedrohung Russlands gewachsen zu sein. Die Handelspolitik müsse angesichts massiver Subventionen von China und den USA in die eigene Industrie überdacht werden. Eine loyale Konkurrenz müsse sichergestellt werden und in Schlüsseltechnologien müsse es in der EU eine Bevorzugung europäischer Produkte geben. Auch in der Landwirtschaft und Ernährungsindustrie müssten zum Schutz der Landwirte gleiche Normen und Spielregeln gelten.
Angesicht der großen Herausforderungen bei Zukunftsthemen wie der Bewältigung des Klimawandels oder Künstlicher Intelligenz pochte Macron auf mehr Forschung und Investitionen. Um mehr Geld zu mobilisieren, müsse die EU über ein größeres gemeinsames Budget verfügen und die angestrebte Kapitalmarktunion beschleunigen, damit mehr privates Kapital innerhalb der EU investiert werde.
Macrons Rede folgt knapp sieben Jahre auf eine erste Europa-Rede an der Sorbonne. Im September 2017 hatte der damals frisch ins Amt gewählte Präsident eine ambitionierte Vision für ein souveränes Europa entworfen, die für viel Aufsehen sorgte. Allerdings gab es von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bis zum Ende ihrer Amtszeit keine Antwort auf Macrons damaligen Vorstoß. Nachfolger Olaf Scholz (SPD) reagierte vor knapp zwei Jahren mit einer europapolitischen Grundsatzrede in Prag, in der er auf die Bedeutung der deutsch-französischen Freundschaft für Europa aber nicht näher einging. Beides kam in Frankreich nicht gut an.
Reaktion von Olaf Scholz
Nun reagierte Kanzler Scholz prompt, er unterstütze die von Macron vorgeschlagenen Maßnahmen für ein wirtschaftlich starkes, sicheres Europa. Gemeinsames Ziel von Frankreich und Deutschland sei es, «dass Europa stark bleibt», so Scholz auf der Plattform X (vormals Twitter). «Deine Rede enthält gute Impulse, wie uns das gelingen kann», fügte er hinzu. «Gemeinsam bringen wir die EU voran: politisch und wirtschaftlich», sagte Scholz. Macron wiederum hob in seiner eindreiviertel stündigen Rede mehrfach die deutsch-französische Kooperation lobend hervor.
Mit seinem zweiten in Frankreich seit Tagen groß angekündigten Sorbonne-Auftritt versuchte Macron auch im Anlauf zur Europawahl, seinem Lager den Rücken zu stärken. Nach Umfragen liegen derzeit die Rechtspopulisten von Marine Le Pen, die einen europakritischen und auf Frankreich zentrierten Kurs fahren, deutlich vorn. Nach der jüngsten Opinionway-Umfrage kommt das Präsidentenlager auf 19 Prozent hinter dem Rassemblement National von Le Pen mit 29 Prozent. Laut Umfrage sind die Sozialisten derzeit mit 12 Prozent drittstärkste Kraft. (dpa/cw)