Für Tiktok wird es ernst: Ein US-Gesetz, das einen Eigentümerwechsel bei der Kurzvideo-App erzwingen soll, ist nun in Kraft. Das Ultimatum könnte Tiktok für alle Nutzer verändern.
Für Tiktok tickt die Uhr: Die populäre Kurzvideo-App soll in den USA nicht mehr verfügbar sein, wenn sie in einem Jahr noch dem in China ansässigen Konzern Bytedance gehört. Tiktok hat zwar auch ähnliche Probleme wie andere Online-Plattformen: extremistische Beiträge, potenziell gefährliche Trends, Vorwürfe von Suchtgefahr. Doch in diesem Fall bringt die US-Politik das Risiko von Datensammlung und Propaganda durch China in den Vordergrund.
Was passiert jetzt?
Zunächst einmal nichts sofort. Das Gesetz gibt Bytedance neun Monate, Tiktok an einen von den USA akzeptierten Investor zu verkaufen. US-Präsident Joe Biden kann die Frist um weitere drei Monate verlängern, wenn er Fortschritte in den Verkaufsverhandlungen sieht. Tiktok machte allerdings bereits deutlich, dass man zunächst vor Gericht ziehen und alle rechtlichen Mittel ausschöpfen wolle. Als Erstes dürfte die Firma eine einstweilige Verfügung anstreben, die den Countdown aussetzt.
Wie stehen die Chancen, dass Gerichte das Gesetz stoppen?
Das ist nicht ganz unrealistisch. Tiktok kritisiert den Plan als Verstoß gegen die in der US-Verfassung verankerte Redefreiheit. Und ein ähnliches Gesetz im Bundesstaat Montana wurde von einem Gericht genau wegen solcher Bedenken auf Eis gelegt. Als Bundesgesetz hat das aktuelle Vorgehen aber eine solidere rechtliche Basis als Donald Trumps Verbotsdrohung per Präsidentenerlass 2020. Damals befanden Richter auch, dass er seine Vollmachten überschritt.
Warum soll Tiktok einen neuen Besitzer bekommen?
Verfechter des Eigentümerwechsels verweisen vor allem auf zwei Risiken: Chinesische Behörden könnten Zugang zu Informationen der mehr als 170 Millionen US-Nutzer bekommen – und China könne die Plattform missbrauchen, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Tiktok konterte stets, man habe nie solche Behördenanfragen bekommen und wäre diesen auch nicht nachgekommen. Das Gesetz verbietet generell Apps von Betreibern, die als gegnerisch eingestuft werden.
Gibt es Beweise für solche Tiktok-Gefahren?
Zumindest keine öffentlich zugänglichen. Einige US-Kongressmitglieder sagten nach vertraulichen Briefings durch FBI- und Geheimdienste zwar, sie seien schockiert über Chinas Möglichkeiten, Tiktok für Datensammlung und Propaganda zu nutzen. Aber Details dazu wurden bisher nicht bekannt.
Was könnte man theoretisch aus Tiktok-Daten erfahren?
Zu wissen, wofür sich Millionen Menschen in einem Land interessieren, kann für rivalisierende Staaten sehr hilfreich sein. Noch wertvoller ist es, wenn man Profile einzelner Personen kennt – und Forscher demonstrierten mehrfach, wie durch die Analyse von Daten aus verschiedenen Quellen auch anonyme Accounts Rückschlüsse auf konkrete Personen liefern. Tiktok bestreitet, dass so etwa passiert. Zugleich ist Online-Spionage aus China an sich durchaus real. Mehrere große Daten-Hacks kamen nach Einschätzung von Experten aus dem Land.
Wenn Tiktok so gefährlich ist, wieso sind dann jüngst das Wahlkampfteam von Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz auf die Plattform gekommen?
Dort sind junge Leute zu erreichen. Insbesondere für Biden ist das wichtig vor der Präsidentenwahl im November – und deshalb war ein Tiktok-Verbot in seiner Demokratischen Partei auch immer umstritten.
Was könnte das Gesetz für Nutzer in anderen Ländern bedeuten?
Eine Verbannung von Tiktok aus europäischen App-Stores steht nicht an. Aber: Verändern könnte sich die App für alle. Das Erfolgsrezept von Tiktok ist der Algorithmus, der entscheidet, welcher Clip als nächster angezeigt wird. Die Software analysiert dafür auch, wie lange man vor dem weiterscrollen auf ein Video schaut.
Ob der Algorithmus bei einem Verkauf von Tiktok mitkommen würde, ist fraglich. In den USA gibt es eher Bestrebungen, ihn mit einheimischer Technologie zu ersetzen. Die App könnte sich dann etwas anders anfühlen. Außerdem könnten populäre Tiktoker wegen des drohenden US-Verbots auf andere Plattformen abwandern – schließlich haben Instagram und YouTube auch eine Kurzvideo-Funktion.
Sind die USA das erste Land, in dem Tiktok das Aus droht?
Nein, Indien verbot Tiktok bereits 2020 zusammen mit Dutzenden anderen chinesischen Apps. Nutzer und Video-Autoren wechselten hauptsächlich zu YouTube und Instagram.
Leitete die EU-Kommission auch Ermittlungen gegen Tiktok?
Ja, aber da geht es um ein anderes Problem. Die Kommission stieß sich daran, dass der Dienste in Frankreich und Spanien ohne eine Risikobewertung eine App mit dem Namen Tiktok Lite startete, bei der Nutzer Punkte für das Anschauen von Videos sammeln können. Die Behörde befürchtet dadurch eine Suchtgefahr. Tiktok setzte die Funktion aus. Wegen der China-Risiken wies die Kommission schon vergangenes Jahr ihre Mitarbeiter an, die App auf Dienst-Telefonen zu löschen.
Sind Bytedance und damit auch Tiktok überhaupt chinesisch?
Das Unternehmen selbst bestreitet das. Die zentrale Begründung ist, Bytedance sei zu 60 Prozent im Besitz internationaler Investoren und der eingetragene Firmensitz liege auf den Cayman-Inseln in der Karibik. Das Gegenargument lautet, dass die chinesischen Gründer bei einem Anteil von 20 Prozent die Kontrolle dank höherer Stimmrechte hielten und Bytedance eine große Zentrale in Peking habe, wodurch man sich dem Einfluss der Regierung nicht entziehen könne. Unter anderem wird auf ein Gesetz verwiesen, dass die Kooperation bei Anfragen von Sicherheitsbehörden vorschreibt.
Wie geht Tiktok nach eigenen Angaben mit den Nutzerdaten um?
Der Dienst versicherte stets, dass Daten amerikanischer Nutzer nur in den USA und in Singapur gelagert würden. Um Vertrauen zu gewinnen, setzte Tiktok auf «Project Texas»: Datenspeicherung nur in den USA, Überwachung des Zugangs dazu sowie des Quellcodes der App durch Experten des US-Konzerns Oracle. Das überzeugte die US-Politik nicht. In Europa laufen ähnliche Maßnahmen mit «Project Clover» in Irland.
Könnte Tiktok auch ohne ein Geschäft in den USA überleben?
Möglich, schließlich hat die App mehr als eine Milliarde Nutzer. Allerdings sind die USA ein wichtiger Online-Markt – und ein Aufstieg rivalisierender Kurzvideo-Plattform dort könnte auch auf andere Weltregionen abfärben.
Wer könnte Tiktok kaufen – und wie teuer könnte das werden?
Ein fairer Preis könnte bei mehreren Dutzend Milliarden Dollar liegen. Die amerikanischen Tech-Riesen, die so etwas locker stemmen könnten, kommen mit großer Wahrscheinlichkeit aus Wettbewerbsgründen nicht als Käufer infrage. Der frühere US-Finanzminister Steven Mnuchin kündigte bereits an, dass er eine Investorengruppe organisiere. Unklar ist, wer dabei mitmacht. (dpa/ag)