Die von der Ukraine ersehnte und lange blockierte US-Militärhilfe gegen Russlands Angriffskrieg ist nun zum Greifen nahe. Aber was bringt sie wirklich? Und wie antwortet Moskau darauf? Ein Überblick.
Die lange Zeit blockierte neue US-Militärhilfe für den Abwehrkrieg der Ukraine gegen Russland soll nun bald ankommen. US-Präsident Joe Biden will das im US-Repräsentantenhaus schon bewilligte Paket über 61 Milliarden US-Dollar (rund 57 Milliarden Euro) nach der absehbaren Zustimmung des US-Senats rasch absegnen. Bringt es eine neue Wende in dem Krieg? Die Fragen und Antworten im Überblick:
Was bringt der Ukraine diese lang ersehnte US-Hilfe?
Die Soldaten in der Ukraine erwarten nach Monaten rationierter Munition vor allem Artilleriegeschosse in einer Größe von 155-Millimetern. Für Angriffe in den von russischen Truppen besetzten Gebieten setzt Kiews Militärführung zudem auf die weit reichenden ATACMS-Raketen. Der US-Senator Mark Warner sagte, dass diese schon kommende Woche in der Ukraine ankommen könnten. Er lobte auch die Erfolge der ukrainischen Streitkräfte bei der Vernichtung russischer Soldaten, Waffen und Militärtechnik, «ohne den Verlust eines einzigen amerikanischen Soldaten».
Bisher hat Washington ATACMS mit einer Reichweite von 165 Kilometern geliefert. Die Ukraine wünscht sich aber welche, die Ziele in 300 Kilometern erreichen können. Entscheiden muss Präsident Biden. Pentagon-Sprecher Patrick Ryder sagte zudem, dass die USA auch die Entsendung von Militärberatern nach Kiew in Betracht zögen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj setzt vor allem auf mehr Flugabwehrsysteme und die dazugehörigen Raketen. Deutschland liefert zur Freude Kiews ein weiteres Flugabwehrsystem vom US-Typ Patriot. Die ukrainische Führung will aber, dass per Monitoring ermittelt wird, wo noch solche Systeme stehen und an Kiew übergeben werden können. Ziel Selenskyjs ist es, die Hoheit über den Luftraum wiederzuerlangen. Dafür erwartet das Land auch die in Aussicht gestellten Kampfjets vom US-Typ F16.
Ein Großteil der Gelder wird allerdings gar nicht für den Bedarf der Ukraine selbst verwendet. Sie sind unter anderem für das Auffüllen der geleerten Arsenale der USA und ihrer Verbündeten vorgesehen. Trotz des neuen Pakets wird Kiew aber mit weniger als in den Vorjahren auskommen müssen. Und das in einer Situation, in der Kriegsgegner Russland seine eigene Produktion ständig ausweitet und zudem auf die Herstellungskapazitäten im Iran und in Nordkorea zurückgreifen kann.
Wie schnell wird die Hilfe in der Ukraine ankommen?
Erwartet wird, dass die erste Munition schon in den nächsten Tagen geliefert werden kann, nachdem Biden das Gesetz unterzeichnet. Die Ukraine hat ihre Logistik nach Einschätzung von Militärexperten verbessert, um die Waffen und Munition an die Frontabschnitte zu bringen. US-Beamte hatten zuletzt erklärt, dass Raketen und Artilleriegeschosse aus amerikanischen Lagern etwa in Europa übergeben werden könnten. Trotzdem könnte es Wochen dauern, bis die Hilfe tatsächlich in der Ukraine spürbar wird.
Die Hilfe kommt trotzdem viel später als von Kiew erhofft – was bedeutet das für den Krieg?
Die Militärhilfe soll vor allem den russischen Vormarsch stoppen. Der ukrainische Präsident Selenskyj hat immer wieder erklärt, dass die westliche Militärhilfe überlebenswichtig sei für das um seine Unabhängigkeit kämpfende Land. Die neue Hilfe soll nicht nur die Lage stabilisieren im Land, sondern schürt die Hoffnung des Landes auf eine neue Offensive zur Befreiung ihrer von Russland besetzten Gebiete – und auf einen Sieg. Russland dürfte aber die aktuellen materiellen und personellen Einschränkungen des ukrainischen Militärs ausnutzen, bis die US-Hilfe tatsächlich eintreffe, hieß es in einer Analyse des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) in Washington.
Wie ist die Lage an der Front?
Selenskyj spricht von einer schwierigen Lage, sie sei aber nicht so schlimm, dass sich das Land mit erhobenen Händen ergebe. Der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR, Kyrylo Budanow, erwartet vor allem Mitte Mai, Anfang Juni Probleme an der Front, weil die Russen einen komplexen Ansatz wählten. Die Situation sei aber «nicht katastrophal. Das Armageddon kommt nicht, wie vielleicht jetzt viele sagen», sagte er. Russland verkündet seit Monaten immer wieder Geländegewinne, vor allem im Osten der Ukraine. Allerdings betonten die ISW-Experten in Washington, dass die Russen lediglich operative Erfolge verzeichneten – und keinen echten Durchbruch an der Frontlinie, der einem strategischen Erfolg gleichkäme.
Um die Waffen zu bedienen, braucht es Soldaten – wie löst die Ukraine das personelle Problem?
Die Ukraine hat derzeit mehr als eine Million Frauen und Männer unter Waffen. Davon sind über 800.000 direkt in der Armee, der Rest in Nationalgarde und Grenztruppen. Entlang der knapp 1000 Kilometer langen Frontlinie sollen dabei gut 300.000 Soldaten im direkten Fronteinsatz sein. Für den Ersatz von Verlusten an Toten und Verwundeten gehen Schätzungen davon aus, dass Kiew monatlich gut 20.000 neue Soldaten einziehen kann. Das kürzlich auf 25 Jahre herabgesetzte Mobilisierungsalter und über ein neues Gesetz verschärfte Registrierungspflichten für wehrpflichtige Männer sollen die Situation verbessern. Der Bedarf in diesem Jahr wird auf mehr als 300.000 Soldaten geschätzt.
Zugleich ist die Bereitschaft, in die Armee einzutreten, äußerst niedrig. Einer Umfrage zufolge können sich nur gut 20 Prozent der infrage kommenden 25- bis 59-Jährigen vorstellen, in der Armee zu kämpfen. Täglich kursieren neue Videos in sozialen Netzwerken, die regelrechte Jagden auf Kriegsdienstpflichtige zeigen. Mehr als 700.000 wehrpflichtige Ukrainer sind zudem allein in der EU als Flüchtlinge registriert. Sie dürften kaum vor Kriegsende in das Land zurückkehren.
Wie reagiert Russland auf die neuen Hilfen der USA und des Westens insgesamt?
Der Kreml betont, dass die US-Hilfe an der Lage im Krieg nichts ändern werde. Russland wirft den USA seit langem vor, Kriegspartei zu sein, einen Stellvertreterkrieg in der Ukraine zu führen. Ziel Washingtons sei es, die Ukraine zu instrumentalisieren, um Russland zu zerstören. Kremlsprecher Peskow betont beinahe täglich, dass durch die Waffenlieferungen am Ende der Krieg in die Länge gezogen werde und immer mehr Ukrainer sterben – und das angegriffene Land dennoch Gebiete verliere. Russlands Staatsfernsehen zeigt in langen Reportagen aus Rüstungsbetrieben, wie Munition produziert wird und die Kriegswirtschaft auf Hochtouren läuft. Präsentiert werden etwa neuartige Roboter für das Kampfgebiet oder Panzer mit neuen Abfangvorrichtungen, um sie vor Drohnenangriffen zu schützen.
Was tun die EU-Staaten und die Nato, um die Ukraine zu unterstützen und die US-Hilfe zu flankieren?
In Europa gibt es viele unterschiedliche Projekte, um der Ukraine dringende benötigte Militärhilfen zur Verfügung zu stellen – einige der wichtigsten kamen zuletzt aber nur schleppend voran. So scheiterte die EU mit dem Plan, der Ukraine innerhalb eines Jahres eine Million Artilleriegeschosse zu liefern. Und auch eine Initiative der Bundesregierung zur Bereitstellung zusätzlicher Luftverteidigungssysteme brachte bis zu diesem Montag keine greifbaren Erfolge. Lediglich Deutschland selbst hat bisher eine feste Zusage für ein zusätzliches Flugabwehrraketensystem Patriot gegeben. Eine tschechische Initiative zur Munitionsbeschaffung für die Ukraine läuft etwas besser. Sie sammelte schon genügend Geld, um in Nicht-EU-Staaten 500.000 Schuss Artilleriemunition für die Ukraine kaufen zu können. Für 300.000 weitere wurden zuletzt aber weiter Geldgeber gesucht.
Das Militärhilfen-Engagement innerhalb der EU ist sehr unterschiedlich. Während nord- und osteuropäische Länder sowie auch Deutschland und die Niederlande vergleichsweise viel Unterstützung leisten, sind andere wirtschaftsstarke Staaten wie Frankreich, Italien und Spanien sehr zurückhaltend. Auch deswegen hat zuletzt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg vorgeschlagen, der Ukraine für die kommenden fünf Jahre militärische Unterstützung im Wert von 100 Milliarden Euro zuzusagen. Daran müsste sich dann jeder Nato-Staat mit einem festgelegten Anteil beteiligen.
Wie lange wird der Krieg noch dauern – und gibt es auch Chancen für Friedensverhandlungen?
Klar ist im Moment nur, dass ein Ende des Krieges nicht in Sicht ist. Er kann noch Jahre dauern. In Russland beteuern Kremlchef Wladimir Putin und der russische Außenminister Sergej Lawrow zwar immer wieder, dass Moskau zu Verhandlungen bereit sei. Sie verlangen aber, dass die Ukraine dafür neben dem Verzicht auf einen Nato-Beitritt auch Gebiete abtreten müsste. Das lehnt der ukrainische Präsident Selenskyj ebenso ab wie ein Einfrieren des Konflikts. Selenskyj hat einen eigenen Friedensplan vorgelegt, der als einen Kernpunkt festlegt, dass die russischen Truppen aus allen besetzten Gebieten abziehen. Russland lehnt das als «völlig realitätsfern» ab. (dpa/aig)