Am 22. April vor 300 Jahren wurde Immanuel Kant, einer der bedeutendsten Philosophen der Aufklärung, geboren. Heute ist sein Werk aktueller denn je – doch wird es oft ins Gegenteil verdreht.
Neben dem Königsberger Dom im heute russischen Kaliningrad genießen die ersten Gäste die Frühlingssonne mit einem Kantwein. Die Bauarbeiten an der Strandpromenade der vom Pregel-Fluss eingeschlossenen Insel, die einst Kneiphof hieß und inzwischen als Kant-Insel bezeichnet wird, sind in vollem Gange. Die Arbeiten sollen bis zum Sommer abgeschlossen sein. Fahrradwege und eine Joggingstrecke entstehen.
Zum 300. Geburtstag des berühmten Philosophen «versuchen wir, die Insel so komfortabel wie möglich für die Menschen zu machen», sagt der Direktor des Kant-Museums, Grigori Chuzijew. Das Museum selbst soll pünktlich zum Geburtstag am 22. April feierlich wiedereröffnet werden – mit einem Konzert im Dom.
Chuzijew ist für den gesamten Komplex verantwortlich. Kants Grab ziert die Rückwand des Königsberger Doms – bis heute Wahrzeichen der Stadt. Der aus gotischer Zeit stammende Kirchenbau ist das einzige bedeutende historische Gebäude, das die Bombardements des Zweiten Weltkriegs und die anschließende Abrisswelle zu Sowjetzeiten in der Altstadt des ehemaligen Königsbergs überlebt hat.
«Die sowjetische Führung hat versucht, so weit wie möglich Objekte des – wie sie es nannte – preußischen Militarismus zu zerstören, aber das Grab Kants hat die Dommauern gerettet», sagt Chuzijew. Da die Kommunisten den Gelehrten als Vorläufer des Marxismus-Leninismus ansahen, hätten sie die Kirche nicht angerührt.
Kant (1724-1804) ist der bekannteste deutsche Philosoph der Aufklärung. Eine Nebenwirkung dieser Popularität ist, dass seine Schriften von vielen politischen Strömungen zur Rechtfertigung der eigenen Ideologie genutzt werden.
So nannte Russlands Präsident Wladimir Putin Kant erst unlängst neben dem in der heutigen Ukraine geborenen Religionsphilosophen Nikolai Berdjajew einen seiner Lieblingsdenker. Es lohne sich, Kant zu lesen und zu versuchen, ihn zu verstehen, sagte Putin – ausgerechnet bei einem Gespräch mit den Familien von in der Ukraine ums Leben gekommenen russischen Militärs.
Ob dem Aufklärer sein Aufruf: «Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen» in Putins Interpretation gefallen haben würde, darf bezweifelt werden. Der Kremlchef nutzte den Ausspruch nämlich für die Rechtfertigung des von ihm befohlenen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Sich des eigenen Verstandes zu bedienen, bedeute für Russland, sich von seinen nationalen Interessen leiten zu lassen. «Wir versuchen das zu tun», sagte Putin.
Kants Spuren in der Charta der Vereinten Nationen
«Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen», schrieb Kant hingegen in einem seiner bekanntesten Werke «Zum Ewigen Frieden» 1795. Das Werk hat Spuren im Völkerrecht hinterlassen, etwa bei der Formulierung der Charta der Vereinten Nationen.
Doch Putin hat sich darüber hinweggesetzt, als er vor gut zwei Jahren den Befehl zum Einmarsch in das Nachbarland gab. Mit dem Massaker von Butscha oder dem anhaltenden Beschuss ziviler Infrastruktur in der Ukraine hat das russische Militär zudem gegen weitere von Kant geforderte Grundsätze bei der Kriegsführung verstoßen, die Vertrauen in einen künftigen Frieden nicht unmöglich machen, so doch erschweren.
Zudem sah der deutsche Philosoph im Republikanismus, also einer freiheitlich geordneten Gesellschaft, die beste Absicherung gegen den Ausbruch künftiger Kriege. Unter anderem deswegen musste er bei der Veröffentlichung Probleme mit der preußischen Zensur befürchten. Eine weitere Parallele zur jetzigen Zeit: Die Einschränkung der Freiheit und die juristische Verfolgung Andersdenkender hat im kriegführenden Russland ein erschreckendes Ausmaß erreicht.
Erst Hauslehrer, dann Professor für Metaphysik
Kant war bei der Veröffentlichung schon ein bekannter Mann. Seine «Kritik der reinen Vernunft» gut zwei Jahrzehnte vorher, die als Revolution des Denkens gilt, gewährte ihm in gewisser Hinsicht auch etwas Schutz vor der Zensurbehörde. Freilich kamen Ruhm und wissenschaftliche Anerkennung für den 1724 in Königsberg Geborenen im Leben erst spät.
Nach seinem Studium musste er sich zunächst als Hauslehrer durchschlagen – unter anderem mehrere Jahre bei einem Pastor in dem Örtchen Judtschen – heute Wesjolowka – rund 100 Kilometer von Königsberg entfernt. Die dort vom Kant-Museum 2018 aufgebaute Zweigstelle im ehemaligen Pastorenhaus erinnert an die Zeit und den Philosophen. In diesem Jahr kam ein Gästehaus für Seminare junger Wissenschaftler und Künstler hinzu.
Eine Professorenstelle – für Logik und Metaphysik – erhielt Kant 1770, im Alter von 46 Jahren. Davor lehrte er lange als Privatdozent unter anderem für Logik, Metaphysik, Moralphilosophie, Theologie, Mathematik, Physik, Geografie, Anthropologie, Pädagogik und Naturrecht.
Kant im deutschen Grundgesetz
Die finanzielle Unsicherheit in Jugendjahren dürfte einer der Faktoren gewesen sein, warum Kant nie geheiratet habe, mutmaßt Walentin Balanowski, leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Philosophischen Fakultät der Kant-Universität in Kaliningrad. Er schreibt zum Jubiläum an einem Buch, um die Philosophie des teilweise als schwer verständlich geltenden Theoretikers in einfachen Worten zu erklären.
Balanowski begeistert vor allem die Erkenntnistheorie Kants, aber auch dessen Ausführungen zur Ethik. Die von Kant formulierte Würde des Menschen hat Eingang in das deutsche Grundgesetz gefunden.
Freilich war es Kants Moralphilosophie, die jüngst einen Skandal hervorrief. Der Kaliningrader Gouverneur Anton Alichanow provozierte mit der These, Kant habe den Weg zum moralischen Relativismus des Westens vorgeprägt und trage damit gewissermaßen auch Schuld am Ukrainekrieg. Russland im Gegensatz dazu halte an ewigen Werten fest.
«Hände weg von unserem Kant»
Doch in der Region regte sich Widerstand gegen diese Deutung. In Kaliningrads sozialen Netzwerken hieß es «Hände weg von unserem Kant». Der Lokalpatriotismus mit der Vereinnahmung des Deutschen hat womöglich auch damit zu tun, dass der Weltweise sein ganzes Leben – ausgenommen die Jahre als Hauslehrer – in Königsberg verbrachte. Selbst in den vier Jahren (1758-1762), als Königsberg während des Siebenjährigen Kriegs von russischen Truppen besetzt war, blieb er dort.
«Er ist zweifellos der größte Sohn unserer Stadt», erläutert Chuzijew die Bedeutung Kants für die Kaliningrader heute. Für ihn persönlich sei er der Wegbereiter des Rechtsstaats. Dass dieser gerade in Russland wieder ausgehöhlt wird, lässt er unkommentiert. (dpa/cw)